Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 5. Jg. Heft 1 - April 1998


Neandertaler: Eine alte Musikerlinie?


von Siegfried Scherer

Studium Integrale Journal
5. Jahrgang / Heft 1 - April 1998
Seite 39 - 40


Abb. 1: Teil eines als Flöte verwendeten Fragments eines Bären-Oberschenkelknochens.

Der Archäologe Ivan Turk fand 1995 in der Divje Babe I - Höhle in der Nähe von Iridijca/Slowenien ein Fragment eines Bären-Oberschenkelknochens mit Bohrungen (Abb. 1). Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Flöte, von der nur ein Teil erhalten ist (Abb. 2). Das Fundstück befindet sich jetzt in der archäologischen Sammlung der Slowenischen Akademie der Wissenschaften in Ljubljana. Im Mai 1998 wird in Slowenien eine internationale Konferenz ausgerichtet, die sich mit der Flöte und den Fundumständen befaßt.

Abb. 2: Rekonstruktion der Flöte.

Der Musikwissenschaftler Bob Fink (Kanada) hat den Fund aufgrund von Photographien analysiert. Der Abstand zwischen dem zweiten und dritten Loch auf dem Knochen ist doppelt so groß wie der zwischen dem dritten und vierten Loch. Die Intervalle entsprechen einem ganzen und einem halben Ton. Diese drei Noten sind diatonisch. Mit dem Instrument konnte man mindestens 4 Töne erzeugen, die der dritten, vierten und sechsten Note der kleinen diatonischen Tonleiter, welche aus ganzen und halben Tönen besteht, entsprechen.

Der Fund wurde aus Mousterien-Schichten geborgen (auf 43.000 bis 67.000 Jahre datiert) und sollte deshalb vom Neandertaler stammen. Falls dies zutrifft, muß der Neandertaler neben entsprechenden intellektuellen und manuellen Fähigkeiten über eine dem heutigen Menschen entsprechende harmonische Tonwahrnehmung verfügt haben. Zudem sind die ältesten bekannten Flöten des anatomisch modernen Menschen deutlich jünger und viel einfacher gebaut.

Dies allein wäre sensationell genug, doch darüber hinaus wurde kürzlich gezeigt, daß der Neandertaler einer sehr alten Linie entstammt. In der Arbeitsgruppe von Svante Pääbo in München wurde 1997 ein Stück mitochondrialer DNA aus einem Neandertaler isoliert und sequenziert. Der Vergleich mit der DNA heutiger Menschen bei Anwendung einer "Molekularen Uhr" ergab etwa 0,6 Millionen Jahre für das Alter des gemeinsamen Vorfahren. Dies bestätigt die alte Hypothese der Paläanthropologen, daß sich der anatomisch moderne Mensch nicht aus dem Neandertaler entwickelte, sondern diesen in jüngster Vergangenheit verdrängte. Bisher war man allerdings der Meinung, daß sich die beiden Menschenformen nicht so früh voneinander getrennt hätten.

Unter der Voraussetzung, daß die molekulare Uhr korrekte Werte liefert, muß man entweder annehmen, daß die zur Herstellung von Flöten notwendigen Fähigkeiten auch dem gemeinsamen Vorfahren des anatomisch modernen Menschen und Neandertalers vor etwa 0,6 Millionen Jahren zukamen, oder man muß postulieren, daß diese Fähigkeiten in beiden Linien konvergent entstanden sind. Als dritte Alternative bliebe nur noch, die Mousterian-Schichten der Divje Babe I - Höhle entgegen bisheriger Meinung nicht dem Neandertaler, sondern dem anatomisch modernen Homo sapiens zuzuordnen. Alle drei Alternativen erscheinen aus gegenwärtiger Sicht der Humanevolution unerwartet.


Literatur

  • Fink B (1997) Neandertal flute - a musicological analysis. Internet: http://www.webster.sk.ca/greenwich/fl-compl.htm
  • Holden C (1997) Early music. Science 276, 205.
  • Turk I (ed, 1997) Mousterian bone flute and other finds from Divje Babe I site. Llubljana, Slowenien.


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