Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 17. Jg. Heft 1 - Mai 2010
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Wie ähnlich sind Mensch und Schimpanse?
Neue Daten zum Y-Chromosom

von Harald Binder
Studium Integrale Journal
17. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2010
Seite 45 - 47


Zusammenfassung: Die ausgeprägten Ähnlichkeiten im Körperbau zwischen Mensch und Schimpanse wurden durch molekularbiologische Daten unterstrichen. Sie unterscheiden sich nach bisheriger Meinung im Genom um weniger als 2%.

Jüngste sehr genaue Analysen des Y-Chromosoms beider Arten zeigen nun aber bei diesem – auch hinsichtlich der Fortpflanzung bedeutsamen – Teil des Erbguts gravierende Unterschiede. Wie kann man diese verstehen? Könnten das Hinweise sein, dass Genome sehr viel differenzierter betrachtet und die Interpretationen bei vergleichenden Genomanalysen sehr viel vorsichtiger formuliert werden müssen?




Genom und Y-Chromosom von Mensch und Schimpanse
Abb. 1: X- und Y-Chromosom des Menschen. (© Nature 2003)

Es gehört bereits zum Allgemeinwissen, dass Schimpanse (Pan) und Mensch (Homo) hinsichtlich ihres Genoms (Erbgut) fast identisch sein sollen. Um weniger als 2% sollen sich diese Arten im Genom unterscheiden, jedoch beruht diese Zahl auf Vergleichen von nur bestimmten Teilen der kompletten Sequenzierungen des menschlichen Genoms und des Genoms des Schimpansen (The Chimpanzee Sequenzing and Analysis Consortium 2005). Nach heutigem Kenntnisstand sind diese Datensätze jedoch unvollständig, lückenhaft und die Interpretationen vergleichsweise oberflächlich (siehe dazu auch Binder 2007).

Inzwischen wurden das Chromosom 21 und das Y-Chromosom des Menschen sehr viel sorgfältiger untersucht. Ein Team unter der Leitung von David Page legte kürzlich eine sehr genaue Analyse des Y-Chromosoms von Schimpansen vor (Hughes et al. 2010). Dieses Chromosom entscheidet wesentlich über das Geschlecht, d. h. ein Y-Chromosom zusammen mit einem X-Chromosom führt zu einem Männchen, hingegen führen zwei X-Chromosomen zum Weibchen. Das Y-Chromosom enthält u. a. Gene, die für die Entwicklung von Spermien von Bedeutung sind. Einige Abschnitte sind palindromisch, d. h. vorwärts und rückwärts gelesen ergibt sich dieselbe Sequenz. Andere Abschnitte liegen zusätzlich in gespiegelter Form vor. Solche Besonderheiten sind mit herkömmlichen Analysetechniken zur Sequenzierung nur schwer oder gar nicht zu erfassen. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum es eine große Herausforderung darstellt, dieses Chromosom wirklich komplett und exakt zu sequenzieren.

Die meisten Chromosomen sind im Zellkern paarweise anzutreffen, sie werden Autosomen genannt. Der Mensch hat 22 Autosomen, dazu entweder die Kombination XX oder XY, und somit typischerweise insgesamt 46 Chromosomen. Zur evolutionären Geschichte des Y-Chromosoms gibt es ganz verschiedene Theorien. Allgemein wird der Ursprung des menschlichen Y-Chromosoms in Autosomen gesehen. Hauptsächlich durch Genverlust soll aus einem ursprünglichen paarigen Chromosom (ähnlich dem heutigen X-Chromosom) das Y-Chromosom entstanden sein.

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Neue, genauere Daten zum Y-Chromosom

Die Analyse des allergrößten Teils vom Y-Chromosom des Schimpansen wurde nun von Page und Mitarbeitern abgeschlossen. Der untersuchte Bereich ist der sogenannte „spezifisch männliche Bereich“ (male-specific region, MSY), er umfasst ca. 95% des Y-Chromosoms. Dieser Teil wurde mit dem Y-Chromosom des Menschen verglichen. Die Fehlerrate der Analyse wurde mit einem Nukleotid pro einer Million Basen (1 Mb) bestimmt. Bereits in einer früheren Studie über das menschliche Y-Chromosom hatten Page und seine Mitarbeiter verschiedene Bereiche des Chromosoms differenziert beschrieben und entsprechend der dort vorkommenden DNA-Sequenzen eingeteilt (Skaletsky et al. 2003; für nähere Erklärungen siehe Kasten). Da sich diese im menschlichen Y-Chromosom beschriebenen Bereiche auch im Y-Chromosom des Schimpansen finden, konnten nun Hughes et al. (2010) diese als Grundlage für eine vergleichende Studie verwenden.

Chromosomen werden in hetero- und euchromatische Bereiche unterschieden. Erstere sind dicht gepackte, spiralisierte DNA, die an Proteine (Histon- und Nichthistonproteine) gebunden ist. In dieser Form kann die DNA nicht abgelesen werden und die dort befindlichen Gene werden nicht in Proteine übersetzt. Im Euchromatin dagegen ist die DNA nur locker gepackt, hier befindet sich fast die gesamte Genaktivität einer Zelle. In diesem Bereich unterscheiden Skaletsky et al. (2003) drei verschiedene Klassen von DNA-Sequenzen im menschlichen Y-Chromosom. In Klammern sind die entsprechenden Größen in Millionen Basen (Mb) und zum Vergleich die Werte vom Schimpansen-Y-Chromosom angegeben.

  • X-transposed: die DNA in diesem Bereich ist zu 99% identisch mit entsprechender DNA auf dem X-Chromosom (Mensch: 3,4 Mb; Schimpanse: 0 Mb).
  • X-degeneriert: in diesen Bereich sind DNA-Abschnitte eingestreut, die als Überreste von Genen des ehemals paarigen Vorläufer-Chromosoms interpretiert werden, aus dem sich die X- und Y-Chromosomen entwickelt haben sollen (Mensch: 8,5 Mb; Schimpanse: 8,6 Mb).
  • ampliconisch: dieser Bereich besteht größtenteils aus Kopien von Sequenzabschnitten aus anderen Bereichen des MSY, diese können mehrere 10.000 oder 100.000 Nukleotide lang sein und zeigen eine Übereinstimmung der DNA-Sequenz von bis zu 99.9% zwischen Mensch und Schimpanse (Mensch: 10,2 Mb; Schimpanse: 14,7 Mb).
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Y-Chromosom von Mensch und Schimpanse im Vergleich

Der aktive Teil des Y-Chromosoms (Euchromatin) lässt sich in drei Bereiche einteilen: X-transposed, X-degeneriert und ampliconisch (siehe Kasten). Sowohl im Y-Chromosom vom Menschen als auch vom Schimpansen machen in diesem Bereich die Typen „X-degeneriert“ und „ampliconisch“ den Hauptanteil aus. Der dritte im menschlichen Y-Chromosom beschriebene Typ, X-transposed, kommt im Schimpansen-Y-Chromosom gar nicht vor. In einer älteren Arbeit hatten Page et al. dies damit erklärt, dass diese Genabschnitte erst nach der Abspaltung der menschlichen Linie von der Schimpansenlinie vom X-Chromosom ins Y-Chromosom „gesprungen“ seien.

Beim Vergleich von DNA-Bereichen des Y-Chromosoms, die man auf eine gemeinsame Abstammung von Mensch und Schimpanse zurückführt (orthologe Chromosomenabschnitte), finden Hughes und Mitarbeiter eine Übereinstimmung von 98,3%. Dieser Wert ist durchaus mit dem publizierten Unterschied im gesamten Genom von ca. 98,8% vergleichbar (The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium 2005).

Überraschend aber ist nach Auskunft von Hughes et al., dass mehr als 30% der DNA-Sequenz im MSY des Menschen gar nicht direkt mit einem entsprechenden Bereich aus dem Schimpansen-Chromosom verglichen werden können, d. h. die entsprechenden Abschnitte fehlen beim Schimpansen oder sie sind durch andere ersetzt (es ist kein Alignment möglich). Offenbar gibt es hier sehr große Unterschiede. Die Autoren schließen daraus, dass seit der Trennung von Mensch und Schimpanse im Y-Chromosom sehr viel mehr Genveränderungen bzw. -verluste stattgefunden haben als im übrigen Genom. Aber auch die jeweils vergleichbaren Sequenzbereiche der Y-Chromosomen weisen stark unterschiedliche Anordnungen auf. Zur Untersuchung der Anordnung von Genen teilt man die DNA-Sequenz in Blöcke einer Größe von je 200 Basenpaaren (bp) auf und untersucht, ob diese 200 bp-Abschnitte ähnliche oder ganz unterschiedliche Nachbarn haben. Vergleicht man das Chromosom 21 (ein Autosom) von Mensch und Schimpanse, so findet man, dass diese Blöcke weitgehend in derselben Umgebung angeordnet sind, d. h. sie befinden sich im Chromosom in etwa an derselben Stelle. Im Y-Chromosom hingegen sind nur wenige vergleichbar angeordnete Areale zu finden, d. h. die jeweiligen Abschnitte von Mensch und Schimpanse finden sich in unterschiedlichen Umgebungen.1

Zusätzlich zu der unterschiedlichen Anordnung sind nicht alle Bereiche des Y-Chromosoms beider Arten direkt miteinander vergleichbar, und die vergleichbaren Abschnitte der DNA-Sequenzen sind ungleichmäßig über das Y-Chromosom verteilt. So sind z. B. aus dem ampliconischen Bereich ca. 50% zwischen Mensch und Schimpanse vergleichbar (homolog), während es im X-degenerierten Bereich 90% sind. Die sonst üblichen Veränderungen eines Genoms, die im Verlauf der Entwicklung angenommen werden, haben sich offenbar auf dem Y-Chromosom sehr viel stärker und in den verschiedenen Bereichen, besonders im ampliconischen Bereich, ganz unterschiedlich manifestiert. Der ampliconische Bereich des Y-Chromosoms von Schimpansen ist um 44% größer als der des menschlichen Y-Chromosoms und weist im Vergleich zum menschlichen Y-Chromosom auch mehr strukturelle Besonderheiten auf. Die Autoren vermuten, dass für diese Unterschiede die auffälligen, bereits oben erwähnten Strukturmerkmale wie gespiegelte Sequenzbereiche oder Palindrome, die sich besonders im ampliconischen Bereich befinden, verantwortlich sind. 19 Palindromen beim Schimpansen stehen nur acht in der menschlichen MSY gegenüber. Dabei entsprechen sich nur sieben zwischen den beiden Arten, d. h. zwölf Palindrome sind spezifisch für Schimpansen. Daneben gibt es, im Gegensatz zur Situation beim Menschen, von nahezu allen Palindromen im Y-Chromosom des Schimpansen mehrere Kopien. Trotz der in dieser Hinsicht komplexeren Struktur des männlichen Geschlechtschromosoms beim Schimpansen ist dessen gesamtes Gen-Repertoire im Vergleich zum Menschen kleiner. So sind beim Schimpansen von 16 vermuteten Genen des hypothetischen gemeinsamen Vorfahren (im X-degenerierten Bereich) vier durch Mutationen inaktiviert, während beim Menschen alle funktionsfähig (geblieben) sind.

Genauere Vergleiche des ampliconischen Bereichs in den MSY von Mensch und Schimpanse zeigen, dass sich beim Schimpansen kein einziges Gen findet, das nur bei ihm vorkäme. Von neun Genfamilien, die beim Menschen in mehreren Kopien vorliegen und im Hoden ausgeprägt werden, sind beim Schimpansen drei entweder durch Mutation ausgeschaltet oder gar nicht vorhanden.

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Gravierende Unterschiede

Insgesamt sind aufgrund von Genveränderungen und Verlusten in der MSY von Schimpansen nur ca. 2/3 derjenigen Gene bzw. Genfamilien vorhanden, die man sonst bei Menschen findet, und von den Protein-kodierenden Abschnitten ist es sogar nur die Hälfte.

Die Befunde über das Y-Chromosom stehen damit im deutlichen Widerspruch zu dem sonst behaupteten Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse von < 1% im übrigen Genom (The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium 2005). Hughes et al. formulieren daher den folgenden Vergleich: Man nimmt an, dass sich im Laufe der Evolution Mensch und Schimpanse vor ca. 6 Millionen Jahren getrennt haben. Legt man jedoch die Daten über die MSY der Y-Chromosomen zugrunde, so entspricht der Unterschied in den Y-Chromosomen etwa dem Unterschied zwischen Mensch und Huhn, deren gemeinsamer Vorfahre vor ca. 310 Millionen Jahren angenommen wird.

Nach den neuen Daten entspricht
der Unterschied in den Y-Chromosomen etwa dem Unterschied
zwischen Mensch und Huhn.

Die bisher anhand anderer Y-Chromosomen entwickelten Theorien vom abklingenden Zerfall (s. Fußnote 1) können die von Hughes und Mitarbeitern beschriebenen Befunde über Mensch und Schimpanse weder vorhersagen noch erklären. Die Autoren vermuten als Ursachen für die auffälligen Unterschiede der „hoch entwickelten“ Y-Chromosomen von Mensch und Schimpansen verschiedene Faktoren, die zusammengewirkt haben könnten:

  • die besondere Bedeutung der MSY-Gene für die Produktion der Spermien in beiden Arten,
  • die hohe Geschwindigkeit von Veränderungen speziell in ampliconischen Bereichen,
  • die fehlende Möglichkeit zum Austausch von Genabschnitten, weil kein homologes Chromosom vorhanden ist.

In einem einführenden Begleitartikel (Buchen 2010) wird Page mit folgendem bildhaften Vergleich zitiert: Wie man dem menschlichen Chromosom 21 entlanggeht, so könnte man auch am Chromosom 21 vom Schimpansen entlang spazieren. Es ist wie ein Spiegelbild. Die Verhältnisse beim Y-Chromosom gleichen aber einem zersplitterten Spiegel.2

Jedenfalls zeigen die jüngsten vergleichenden genetischen Untersuchungen zwischen Mensch und Schimpanse anhand des Y-Chromosoms unerwartete und überraschende Unterschiede. Diese Unterschiede setzen sich gravierend von den bisher angenommenen Ähnlichkeiten des übrigen Genoms ab. Könnte es sein, dass im Genom gerade dort, wo die Fortpflanzung betroffen ist, die Flexibilität und Spezifität der DNA-Bereiche sehr fein abgestimmt und ausgeklügelt sein muss? Man kann Hughes et al. (2010) nur zustimmen, wenn sie ihren Bericht mit der Bemerkung beschließen, dass erst zukünftig komplette DNA-Sequenzen von Y-Chromosomen anderer Arten weiteres Licht auf die gegenwärtig diskutierten Erklärungen werfen werden. Man darf gespannt sein auf die Morgenröte.

Dank: Wertvolle Hinweise zu diesem Artikel verdanke ich Niko Winkler.

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Anmerkungen

1 Diese Befunde stehen im Widerspruch zu derzeit diskutierten Theorien, die davon ausgehen, dass sich die Y-Chromosomen hauptsächlich durch Genverlust entwickelt haben. Im Laufe der Zeit soll die Geschwindigkeit des Genverlusts immer langsamer geworden sein (Theorien vom abklingenden Gen-Zerfall). Diese Theorien würden prognostizieren, dass sich Y-Chromosomen von Mensch und Schimpanse viel ähnlicher sein sollten, als die hier beschriebenen Befunde es aufweisen.

2 If you’re marching along the human chromosome 21, you might as well be marching along the chimp chromosome 21. It’s like an unbroken piece of glass“, says Page. „But the relationship between the human and chimp Y chromosomes has been blown to pieces.“

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Literatur

Binder H (2007)
Über den genetischen Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse – der 1% Mythos. Stud. Int. J. 14, 77-78.
Buchen L (2010)
The fickle Y-chromosome. Nature 463, 149.
Hughes JF, Skaletsky H et al. (2010)
Chimpanzee and human Y chromosomes are remarkably divergent in structure and gene content. Nature doi:10.1038/nature08700
Skaletsky H, Kuroda-Kawaguchi T et al. (2003)
The male-specific region of the human Y chromosome is a mosaic of discrete sequence classes. Nature 423, 825-837.
The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium (2005)
Initial sequence of the chimpanzee genome and comparison with the human genome. Nature 437, 69-87.

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