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Streiflichter


Studium Integrale Journal
11. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2004
Seite 41 - 46





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Abb.1: Die Weichteilerhaltung eines fossilen Ostracoden (oben) zeigt detaillierte Ähnlichkeiten mit heute lebenden Formen (unten). (© David Siveter, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

In die große Zahl sogenannter „lebender Fossilien“ reiht sich ein unscheinbares Fossil aus der Gruppe der Ostracoden ein. Es wurde in einer silurischen Konservat-Fossillagerstätte im britischen Herefordshire gefunden, die auf 425 Millionen Jahre datiert wird. Wie aus Abb. 1 hervorgeht, gleicht dieses Fossil heutigen Formen im Detail (SIVETER et al. 2003). Nach evolutionstheoretischer Lesart sind also 425 Millionen Jahre an dieser Art spurlos vorübergegangen. Dieser Befund fügt sich gut in die allgemein geringen Raten evolutionären Wandels ein, die bei anderen Krebstieren bekannt sind (SIVETER et al. 2003, 1751).

Ostracoden sind kleine, zweischalige Krebstiere. Etwa 33.000 heute lebende oder fossile Formen sind aus dieser Gruppe bekannt; sie kommen im Meer, im Süßwasser und sogar an Land vor. Die Ostracoden sind die bei weitem häufigste Fossilgruppe unter den Gliederfüßern. Aufgrund ihrer Häufigkeit werden sie für die Biostratigraphie genutzt. Die ältesten bekannten Formen stammen aus dem Ordovizium (datiert auf ca. 500 Millionen Jahre). Das von SIVETER et al. (2003) beschriebene Fossil aus der Gattung Colymbosathon gehört zur Gruppe der Myodocopa und ist etwa 5 cm lang. Besonders bemerkenswert ist die Weichteilerhaltung, die sehr selten vorkommt und den genauen Vergleich mit heute lebenden Formen erlaubt.

Der Fund eines völlig modernen Ostracoden im Silur kollidiert darüber hinaus mit molekularen Daten, die für eine späte Entstehung der betreffenden Ostracodenfamilie sprechen (STOKSTAD 2003).

RJ

[SIVETER DJ, SUTTON MD, BRIGGS DEG & SIVETER DJ (2003) An ostracode crustacean with soft parts from the Lower Silurian. Science 302, 1749-1751; STOKSTAD E (2003) Gutsy fossil sets record for staying the course. Science 302, 1645.]


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Innerhalb des Kambriums tauchen Fossilien aus allen bekannten Tierstämmen auf; dazu kommen einige bald wieder erloschene. Im vorausgehenden Präkambrium fehlen sie vollständig (ELICKI 2003). Manche Strukturen im späten Präkambrium werden allerdings teilweise als Weide- und Grabspuren von „Ur“-Mollusken oder Seerosen, also von Angehörigen bekannter Tierstämme, gedeutet (SEILACHER 2003, 74-79); doch sind diese Deutungen mit Unsicherheiten behaftet. Paläontologen sprechen von der „kambrischen Explosion“ des Lebens. Die Ursachen dafür sind unklar und umstritten. Manche Forscher halten die kambrische Explosion für ein Überlieferungs-Artefakt, also sozusagen eine optische Täuschung aufgrund ungünstiger fossiler Erhaltungsbedingungen im Präkambrium. Aber dagegen sprechen eine ganze Anzahl Fossillagerstätten besonders im späten Präkambrium mit Weichkörper-Abdrücken; diese führen jedoch völlig andere, sehr fremdartige Lebensformen (sog. Vendobionten; CONWAY MORRIS 2000; SEILACHER 2003, 70-74). Die Vielfalt der bereits im Kambrium dokumentierten Formen hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. So berichten CHEN & HUANG (2002) von einem unterkambrischen Fossil, das aufgrund einer Reihe von Merkmalen zu den Pfeilwürmern gestellt werden kann. Pfeilwürmer (Chaetognatha; „Borstenkiefer“) sind langgestreckte, runde, glashelle, räuberische, sehr schnell schwimmende Planktonbewohner von pfeilartiger Gestalt mit relativ kräftigen, hakenartigen Greiforganen (Borsten; namengebendes Merkmal) rechts und links der Mundhöhle; seitlich tragen sie horizontale Flossenpaare (HENTSCHEL & WAGNER 1986, 164). Die etwa 100 heutigen Arten dieser Gruppe leben weltweit in den Ozeanen und spielen in der Nahrungskette eine große Rolle. Fossil sind sie kaum bekannt. Ein sicherer Pfeilwurmfund stammt aus dem Karbon, weitere unsichere aus dem Mittleren Kambrium Sie wurden in Konservat-Fossillagerstätten gefunden; dieser Umstand und der relativ zarte Körperbau dürften hier die großen Überlieferungslücken erklären.

Der neue Fund erweitert die geologische Spanne, in der Pfeilwürmer bekannt sind. Es handelt sich um ein etwa 2,5 cm langes Tier mit dem Namen Eognathacantha ercainella. Für die Zugehörigkeit zu den Pfeilwürmern spricht ein verbreiterter Kopf, der vom Rumpf abgesetzt ist, die Ausbildung eines Schwanzes, das Vorkommen von Greifhaken und eventuell Zähnen am Kopf und eine Kappe am Rand zwischen Kopf und Rumpf (ein diagnostisches Merkmal für Chaetognathen) (CHEN & HUANG 2002). Allerdings wurde nur ein Paar schmaler Flossen ohne Flossenstrahlen gefunden. Auch wenn die Deutung mit Unsicherheiten behaftet ist, wurde mit diesem Fund die Formenfülle des unteren Kambriums erneut erweitert.

RJ/MS

[CHEN J-Y & HUANG D-Y (2002) A possible Lower Cambrian chaetognath (arrow worm). Science 298, 187; CONWAY MORRIS S (2000) Fossilien vom Typ der Ediacara (Vendium, jüngstes Proterozoikum) in Europa. In: MEISCHNER D (Hg) Europäische Fossillagerstätten. Berlin, S. 11-16; ELICKI O (2003) Das Kambrium. Biol. in uns. Zeit 33, 380-389; HENTSCHEL E & WAGNER G (1986) Zoologisches Wörterbuch. 3. Auflage. Stuttgart; SEILACHER A (2003) Der Garten von Ediacara und die kambrische Explosion. In: HANSCH W (Hg) Katastrophen in der Erdgeschichte. Museo 19. Heilbronn, 70-81]


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Für Korallen werden allgemein geringe Wachstumsraten angegeben (Größenordnungen von Zentimetern bis höchstens Dezimetern pro Jahr). Fossile Riffe, die in die Abfolge der Sedimentgesteine eingeschaltet sind, gelten daher seit langem als eindrucksvolle Belege für große Zeiträume (z.B. Wagner 1936; vgl. Hagdorn 1999, 312f.). Es gibt aber auch Indizien, daß bestimmte Korallenriffe des Oberjura – anders als heute – unter widrigen Umweltbedingungen wachsen konnten, offenbar sogar verhältnismäßig schnell.

In einem Übersichtsartikel erwähnt Leinfelder (2003, 193) fossile Korallenriffe aus dem Lusitania-Becken von Portugal, die „während toniger Sedimentation weiterwuchsen“ (vgl. Leinfelder 1997, 106; s. auch die Internet-Präsentation „Jurassic Reef Park“ [Leinfelder 1998]). Dagegen sind heutige Korallenriffe gegenüber Sedimenteintrag (vom Land) außerordentlich empfindlich (z.B. Greb et al. 1996, 105f.,123f.; Leinfelder 2003, 187). Ob Korallen vermehrter Tonablagerung trotzen und dennoch weiterwachsen konnten, hängt nach einer größeren Arbeit von Leinfelder (1994, 163-167, 182f.) von mehreren Faktoren ab: Der Zahl der Septen (Kammerscheidewände) und damit der Tentakelzahl, den Kelchtypen sowie der allgemeinen Wuchsform. Dabei seien nur bestimmte Korallenarten, die mit einer hohen Variabilität der Körpergestalt ausgestattet sind, deutlich bevorzugt. Dazu zählen solche mit ästigem Wuchs (vgl. Nose 1995, 110f.).

Die Wachstumsfähigkeit dieser Korallen während stärkerer Tonablagerung sei erstaunlich, obwohl Tone „für die Organismen noch wesentlich gefährlicher als karbonatische Schlämme zu sein“ scheinen. Als Grund wird genannt, daß die Organismen wegen geringer Partikelgrößen und hoher Adhäsionskräfte (Haftfähigkeit) der Tone sich normalerweise nur sehr schwer von diesen reinigen können (Leinfelder 1994, 162). Aber auch manche heutigen ästigen Korallen sind in der Lage, feine Sedimentpartikel von ihren Kelchen fernzuhalten oder sogar aus ihnen zu entfernen. Sie sollen offenbar auch die Fähigkeit besitzen, in ihrem Wachstum mit erhöhten Sedimentationsraten Schritt zu halten (Nose 1995, 110). Dennoch ist nach Leinfelder (2003, 193) dieses Milieu für moderne Korallenriffe untypisch.

Vergleichbare fossile Korallenriffe mit eingelagerten tonig-kalkigen Sedimenten beschreibt auch Nose (1995, 110f., 154f.) aus dem spanischen Oberjura in seiner Dissertation. Das dortige keltiberische Becken führt sogar Korallenriffe, in die „stark sandige“ Sedimente eingetragen wurden. Die Sande wurden „in Form von Linsen und Nestern“ innerhalb der Riffwachstumszone abgelagert. Seitlich geht dieser Rifftyp in Fein- bis Grobsandsteine über, die vom Festland ins Meer geschüttet wurden (Nose 1995, 86).

Wenn diese Deutungen ehemaliger Lebensräume (Fazies-Analysen) bestimmter Oberjura-Korallenvergesellschaftungen zutreffen sollten, stellt sich die Frage, ob solche Korallen nicht außerordentlich schnell wachsen konnten. Immerhin lebten sie „oftmals unter erhöhten Sedimentationsraten“ (Leinfelder 2003, 193f.). Und weiter: Was bedeutet das für das Wachstum kompletter fossiler Korallenriffe gegenüber heutigen? Hier ist noch weitere umfangreiche Forschungsarbeit nötig.

MS

[Greb L, Saric B, Seyfried H, Broszonn T, Brauch S, Gugau G, Wiltschko C & Leinfelder R (1996) Ökologie und Sedimentologie eines rezenten Rampensystems an der Karibikküste von Panamá. Profil 10. 1-168.; Hagdorn H (1999) Riffe aus dem Muschelkalk. In: Hauschke H & Wilde V (Hg) Trias. München, 309-320; Leinfelder RR (1994) Karbonatplattformen und Korallenriffe innerhalb siliziklastischer Sedimentationsbereiche (Oberjura, Lusitanisches Becken, Portugal). Profil 6, 1-207; Leinfelder R (1997) Die Korallenriffe der Jurazeit. In: Steininger FF & Maronde D (Hg) Städte unter Wasser. Kl. Senckenberg-Reihe 24. Frankfurt/M., 101-112; Leinfelder R (1998) Jurassic Reef Park. Internet: http://www.palaeo.de/JRP/; Leinfelder R (2003) Korallenriffe – Zentren der Artenvielfalt und Evolution. In: Hansch W (Hg) Katastrophen der Erdgeschichte. Museo 19. Heilbronn, 180-199; Nose M (1995) Vergleichende Faziesanalyse und Palökologie korallenreicher Verflachungsabfolgen des iberischen Oberjura. Profil 8, 1-237; Wagner G (1936) Riffbildung als Maßstab geologischer Zeiträume. Aus der Heimat. Naturwiss. Monatsschr. 49, 157-160]


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Abb.1: Der Trilobit Erbenochile erbeni (Alberti) aus dem Unterdevon Südmarokkos. A von hinten, B von der Seite, C von oben, D, E Details des Auges von der Seite aus. In E ist zu sehen, wie die Sonnenblende das Licht von oben abschirmt. (Aus Fortey & Chatterton 2004, Abdruck mit freundlicher Genehmigung.)

Ein Trilobit mit auffälligen Merkmalen im Aufbau der Augen aus dem Devon von Marokko wird von Fortey & Chatterton (2003) beschrieben. Erstmals wurde ein komplettes Tier von der bereits beschriebenen Art Erbenochile entdeckt und geborgen. Die Autoren konzentrieren sich in ihrer kurzen Beschreibung auf den Kopfbereich und besonders auf den Aufbau der Augen. Das Exemplar, ein Vertreter der Ordnung Phacopsida, weist eine bemerkenswerte Augenkonstruktion auf: Zwei turmartige Strukturen stehen in auffälliger Weise vom Kopf ab. Jede dieser Konstruktionen enthält vertikal angeordnete Reihen aus jeweils 18 Calzit-Linsen (insgesamt etwa 560). Die Linsen sind so angeordnet, daß das Gesichtsfeld des Trilobiten die gesamte Sedimentoberfläche umfaßt, auf welcher er lebt, 360° in horizontaler Richtung. Die Höhe der „Augentürme“ erlaubt seinem Besitzer auch einen Blick über die Schulter.

Der Aufbau der Augen unterscheidet sich von bisher bekannten Trilobitenaugen durch einen ausgestülpten Rand, der als Sonnenblende für senkrecht von oben einfallendes Licht wirkt. Die Autoren demonstrieren (Abb. 1D und E), daß dieses besondere Strukturmerkmal von oben herabkommendes Streulicht und Licht wirksam für die Linsen ausblendet. Die Autoren stellen fest, daß dieser Trilobit eine eigene Lösung entwickelt hat, um den devonischen Meeresboden ohne Ablenkung überblicken zu können, wodurch er dort kleinste Bewegungen auch aus einiger Entfernung feststellen kann. Mit dieser Sonnenblende ist nach Meinung der Autoren erstmals ein direkter Hinweis auf die Tagaktivität von Trilobiten vorgelegt worden, bisher war darüber nur spekuliert worden. Bei Nacht nützt diese Einrichtung nämlich wenig.

Dieser neue, in seinen Details faszinierende Befund gibt Anlaß zum Staunen über hochspezialisierte Einrichtungen selbst bei Lebewesen, die wir heute gar nicht mehr direkt lebend beobachten können.

HB

[Fortey R & Chatterton B (2003) A Devonian trilobite with an eyeshade. Science 301, 1689]


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Aronstabgewächse (Araceae) weisen auffällige Besonderheiten im Aufbau ihrer Blüten und damit gekoppelt eigentümliche Stoffwechselphänome auf (Binder 2003, Junker & Wiskin 2002). In einem Kurzbericht dokumentieren Seymour et al. (2003) ihre Untersuchungen über den Zusammenhang von Wärme produzierenden Blüten von Philodendron solimoesense (Araceae) und dem Energieverbrauch ihrer hauptsächlichen Bestäuber, dem Blatthornkäfer Cyclocephala colasi (Scarabeae) in den neotropischen Wäldern von Französisch Guiyana.

Nach Einbruch der Dunkelheit erfolgt eine schnelle Wärmeproduktion in der Blüte mit gleichzeitig starker Geruchsentwicklung. Dadurch wird der Blütenbesuch von C. colasi provoziert. Während der gesamten Nacht liegt die Temperatur in der Blüte 3,4 bis 5,0 °C über derjenigen der Umgebung. Viele Insekten benötigen für ihre Aktivität eine erhöhte Körpertemperatur, diese erreichen sie, indem sie durch ihren Stoffwechsel diese Wärme erzeugen. Aufgrund der geringen Größe von Insekten kann die erforderliche Erhöhung der Stoffwechselrate z.B. um das 16-fache bei einigen Käfern anwachsen. Eine erhöhte Temperatur in der Umgebung könnte daher für die Käfer eine Energieeinsparung bedeuten.

In der Untersuchung von Seymour et al. (2003) wurde der Energieverbrauch der Käfer anhand von deren CO2-Produktion ermittelt. Zu diesem Zweck wurden Käfer aus der Familie der Scarabeae in einer entsprechenden Versuchsapparatur (Respirometer) bei verschiedenen Temperaturen untersucht. Käfer in der Ruhephase weisen niedrige Stoffwechselumsatzraten auf, diese steigen leicht mit zunehmender Umgebungstemperatur. Bei aktiven Tieren sind die Umsatzraten höher und steigen bei abnehmender Temperatur stark an. Sinkt die Temperatur unter 27 °C, dann zeigen manche Tiere explosionsartige Steigerungen der Atmung (150-fach) und zeigen damit eine Aufwärmphase an, bei höheren Temperaturen sind diese Phasen kürzer, seltener und weniger ausgeprägt.

Bei einer Lufttemperatur von 24 °C und einer Temperatur von 28 °C in der Blüte beträgt der errechnete Faktor für die Energieeinsparung (Verhältnis von der zusätzlich für die Aktivität aufgewendeten Energie bei Lufttemperatur zu derjenigen bei erhöhter Temperatur in der Blüte) am Abend bei der Ankunft der Insekten 4,8 und am Morgen immer noch 2,0.

Somit verhilft die Pflanze durch die Wärmeproduktion in der Blüte den sie bestäubenden Insekten zu einer Energieeinsparung, die selbst bei verhältnismäßig geringen Temperaturunterschieden wie im Tiefland von Französisch Guiyana (ca. 4 °C) beträchtlich ist. An Standorten mit größeren Temperaturunterschieden ist der Einfluß der Blütenheizung von größerer Bedeutung.

Die Autoren vermuten in der Bereitstellung von beheizten Blüten einen wichtigen Beitrag zur frühen Evolution von Blütenpflanzen. Angesichts der Tatsache, daß in tropischen Wäldern 900 Pflanzenarten mit Wärme produzierenden Blüten aus mindestens sechs Familien (Cyclanthaceae, Annonaceae, Araceae, Arecaceae, Magnoliaceae und Nymphaeceae) bekannt sind und diese von mehr als 220 Cyclocephala-Arten besucht werden, dürfte eine einfache plausible Erklärung für deren offenbar mehrfach unabhängige Entstehung (Konvergenz) nicht einfach zu finden sein.

HB

[Binder H (2003) Verwesungsgeruch als Attraktion. Stud. Int. J. 10, 41; Junker R & Wiskin R (2002) Der Natur auf der Spur im Frühlingswald. Dillenburg; S. 54-59; Seymour RS, White CR & Gibernau M (2003) Heat reward for insect pollinators. Nature 426, 243-244.]


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Abb.1: Ergebnisse von drei Computersimulationen zur Fixierung von Mutationen in wandernden Populationen. Die Fixierung von Mutationen geschieht durch Drift und ist damit ein zufallsabhängiger Prozeß. Von links nach rechts ist die Ausbreitungsrichtung der simulierten Population wiedergegeben; die Quadrate repräsentieren Subpopulationen. Ein Stern zeigt die Entstehung einer Mutation in einer Subpopulation an; ein Kreuz zeigt den Schwerpunkt der Mutation in der Gesamtpopulation am Ende der Simulation. Die Schattierungen stehen für die Frequenz der Mutante in den einzelnen Subpopulationen (weiß = 0-25%, hellgrau 25-50%, dunkelgrau 50-75%, schwarz = 75-100%). In A wurde die Mutante nicht durch Drift fixiert, in B kam es nur zur Fixierung in wenigen Subpopulationen; die Mutante im Simulationsexperiment C dominiert die Ausbreitungswelle. Zur statistischen Beurteilung müssen tausende von Einzelsimulationen durchgeführt werden. (Aus Edmonds et al. 2004, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Mutationen sind eine wesentliche Quelle der Variabilität der Lebewesen. Allerdings müssen sich Mutationen in einer Population auch durchsetzen („fixiert werden“), damit sie eine Population nachhaltig verändern. Dies geschieht, wenn die Mutation einen deutlichen Selektionsvorteil bietet. Das ist aber bei den allermeisten Mutationen nicht der Fall, sie sind neutral oder nahezu neutral und können nur durch evolutionäre Drift (neutrale Theorie der Evolution nach Kimura) fixiert werden. Die Chance, daß eine neutrale Mutation durch Drift fixiert wird, sinkt jedoch proportional zum Kehrwert der Populationsgröße. In kleinen Populationen laufen demnach schnelle mikroevolutive Prozesse ab („bottleneck-Effekt“ durch Populationsengpässe). Diese einfache Beziehung gilt jedoch nur für „statische“ Populationen (konstanter Lebensraum bzw. Populationsgröße).

Edmonds und Mitarbeiter (2004) stellten dagegen die Frage, wie es um die Fixierung von Mutationen in sich ausbreitenden Populationen bestellt ist. Wenn sich eine Population ausbreitet und damit einen neuen Lebensraum besiedelt, geschieht diese Ausbreitung am Rand der Population, an einer Ausbreitungsfront, die durch Wanderung in neue Gebiete entsteht. Die Autoren der Studie stellen eine Computersimulation vor, die eine solche Situation aufgrund verschiedener Parameter wie Vermehrungsrate, Wanderungsgeschwindigkeit und Mutationsrate modelliert. Die Simulationen zeigten, daß in den Ausbreitungsfronten ausgesprochene Gründereffekte zu beobachten waren, welche die Fixierung von Mutationen durch extreme lokale Populationsengpässe stark begünstigte.

Wenn dieses theoretische Modell das Verhalten realer wandernder Populationen beschreibt, wird man davon ausgehen können, daß solche Populationen einer viel schnelleren Mikroevolution unterliegen als man auf den ersten Blick annehmen würde. Dies dürfte insbesondere von Bedeutung sein, wenn sich Organismen in neue Lebensräume ausbreiten. Das ist beispielsweise der Fall bei Verschleppung durch den Menschen, etwa bei der Dreikantmuschel oder der Aussetzung von Kaninchen in Australien. Ein anderes bedeutendes Szenario sind Katastrophen, durch welche die Fauna und/oder Flora ganzer Lebensräume teilweise oder ganz ausgelöscht werden, welche danach durch Einwanderung wieder besiedelt werden.

SS

[Edmonds AC, Lillie AS, Cavalli-Sforza LL (2004) Mutations arising in the wave front of an expanding population. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 101, 975-979.]


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Abb.1: (a), von links nach rechts: Euhadra quaesita (sinistral oder linksdrehend); Euhadra aomoriensis (dextral oder rechtsdrehend); Euhadra senckenbergiana (dextrale Art). (b), homochirale Paarung von Euhadra congenita; (c), heterochirale Paarung von Bradybaena similaris, die weißen Pfeile zeigen, daß die Geschlechtsöffnungen nicht aufeinander passen. Dadurch wird der Paarungserfolg drastisch vermindert. Abdruck mit Genehmigung von Nature (Ueshima & Asami, 2003, Vol 425, p. 679) Macmillan Publishers Ltd.

Das Gehäuse von Schnecken kann rechts- („dextral“) oder linksdrehend („sinistral“) aufgebaut sein (Chiralität, Abb. 1). Die Drehrichtung ist von einem einzelnen genetischen Locus abhängig. Wenn sich dieser in einem Weibchen durch Mutation entsprechend verändert, weisen alle Nachkommen dieses Tieres ausschließlich diesen chiralen Phänotyp auf, und zwar unabhängig vom Genotyp des männlichen Elters. Allerdings haben die chiral umgedrehten Nachkommen Fortpflanzungsprobleme: Wenn sie sich mit chiral entgegengesetzten Individuen ihrer Population paaren (heterochirale Paarung), beträgt der Fortpflanzungserfolg nur einen Bruchteil dessen einer homochiralen Paarung. Damit ist eine solche Mutation durch Selektion stark benachteiligt, solange in einer Population die Mehrheit der Individuen eine andere Chiralität besitzt; in sehr kleinen Randgruppen (Gründerpopulation), die von einem mutierten Weibchen stammen, könnte sich die Spiegelbild-Variante jedoch halten. Sobald sie mehr als 50% der Population stellt, wird sie sogar selektiv begünstigt und die Reversion der Chiralität wird fixiert (allelfrequenzabhängige Selektion).

Rei Ueshima und Takahiro Asami haben über 60 Populationen/Unterarten/Arten mehrerer Euhadra-Spezies anhand ihrer mitochondrialen DNS untersucht. Etwa die Hälfte der Euhadra-Populationen ist dextral, die andere Hälfte dagegen sinistral. Der errechnete mtDNS-Stammbaum legt eine dextrale Ausgangsart nahe; die Autoren vermuten, daß es im Lauf der Aufspaltung der Gattung in mindestens 6 Fällen zu einer Umkehr der Chiralität gekommen sein dürfte. Insbesondere zeigen die beiden Arten E. quaesita und E. aomoriensis gegensätzliche Chiralität (Abb. 1), doch sind die unterschiedlichen Populationen im mtDNS-Stammbaum unabhängig von der Artzugehörigkeit gemischt. E. aomoriensis ist vermutlich dreifach unabhängig aus E. quaesita-Populationen entstanden. Damit würde es sich hier – neben einer sehr schnellen Artbildung – auch um den seltenen Fall einer polyphyletischen Tierspezies innerhalb eines Grundtyps handeln, da die Gattung Euhadra zweifellos zu einem Grundtyp gehört (Kreuzung zwischen Spezies sind bekannt). Wahrscheinlich muß man alle Gattungen der Bradybaenidae (Familie der Helicoidea) zu einem Grundtyp zu rechnen.

SS

[Ueshima R & Asami T (2003) Single-gene speciation by left-right reversal. Nature 425, 679.]


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Existierte zur Zeit Jesu in Palästina so etwas wie eine allgemeine Schriftkultur? Diese Frage ist theologisch nicht ohne Brisanz. Denn wenn die Kunst des Schreibens tatsächlich verbreitet war, kommt man kaum um die Annahme herum, daß sich auch unter den Zuhören Jesu Schreibkundige fanden, die das Gehörte in Notizen festhielten, auf die beispielsweise Lukas zurückgreifen konnte. Überhaupt erschiene die in der Theologie vorherrschende Vorstellung der Spätdatierung der Evangelien nach dem Jahre 70 n.Chr. angesichts des ungeheuren Eindrucks, den Jesus auf seine Zuhörer gemacht haben muß, wenig plausibel. Kaum vorstellbar, daß niemand schriftliche Aufzeichnungen gemacht haben sollte, es sei denn, daß die übergroße Mehrheit nicht schreiben konnte. Dies ist freilich bislang die vorherrschende Meinung unter den Bibelgelehrten. Danach lag die Kunst des Schreibens in den Händen von Spezialisten, und auch lesen konnten nur wenige Gebildete. Hinsichtlich der neutestamentlichen Informationen über das Leben und die Reden Jesu bedeutet dies, daß sie über etliche Jahrzehnte lediglich mündlich weitergegeben werden konnten, ein Prozeß, in dem sie zunehmend verfälscht und mit nicht-authentischen Zusätzen überfrachtet worden seien. Folgt man dieser Argumentationskette, dann enthalten die heutigen Evangelien eher die Sicht, die die Christen zwei oder drei Generationen nach Jesus hatten, als Tatsachenberichte darüber, was er wirklich gesagt und getan hatte. Letzteres herauszufinden, ist die selbstgestellte Aufgabe der heutigen Theologen, die dafür ein spezielles Instrumentarium an text- und bibelkritischem Werkzeug entwickelt haben.

Durch Textaussagen selbst ist dieses Gedankengebäude nicht strikt zu widerlegen, kann doch jeder biblische Hinweis darauf, daß etliche Akteure des Neuen Testaments schreiben konnten, problemlos als spätere „Gemeindebildung“ weginterpretiert werden (wobei sich eine solche Argumentation allerdings im Kreise dreht). Es bekäme jedoch ernsthafte Risse, wenn sich herausstellte, daß die Annahme des weitgehenden Analphabetentums zur Zeit Jesu falsch war. Gerade dies ist aber die These Alan Millards, Professor für Hebräisch und alte semitische Sprachen an der Universität Liverpool, wenn er schreibt: „Die Hinweise, daß Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu weithin praktiziert wurden, vermehren sich mit der Entdeckung jeder neu aufgefundenen Inschrift. Vieles von diesem Material stammt aus religiösen oder aus Regierungskreisen. Das trifft aber längst nicht auf alles zu.“

Neben dem berühmtesten Beispiel, den Qumran-Rollen, verweist Millard u.a. auf Briefe und Rechtsdokumente, die während des zweiten jüdischen Aufstandes unter Simon Bar-Kochba 132 bis 135 n.Chr. in Höhlen am Toten Meer zurückgelassen wurden. Etliche der Schriften datieren in die Mitte des ersten Jahrhunderts. Darunter befinden sich Scheidungsurkunden und ein Schuldbrief, der an Jesu Gleichnis vom ungerechten Haushalter in Lukas 16 erinnert. Millard verweist darauf, daß Schriftdokumente aus Papyrus und Leder mit Ausnahme der extrem trockenen Wüstengegend am Toten Meer aufgrund des Klimas in Palästina nicht erhalten bleiben konnten. Zudem waren diese Materialien für den Alltagsgebrauch viel zu teuer. Dafür nutzte man Tonscherben, die überall in großer Menge verfügbar waren. Viele solcher Ostraka sind erhalten. So fand man auf Massada, der Bergfestung, die 73 n.Chr. von den Römern gestürmt wurde, Scherben, die jeweils nur einen Namen, in etlichen Fällen auch nur einen Buchstaben enthielten. Man vermutet, daß es sich um eine Art Coupons zur Organisierung der Lebensmittelrationierung während der Belagerung handelte.

Auffällig ist, daß hebräisch und griechisch beschriebene Ostraka Seite an Seite gefunden wurden, was nahe legt, daß unter den Belagerten beide Sprachen gesprochen wurden. Daß die bisherigen Ostraka-Funde aus der Zeit der Evangelien hauptsächlich in Juda gemacht wurden, erklärt Millard nicht damit, daß die Kunst des Schreibens in Galiläa, von wo Jesus und seine Jünger stammten, weniger verbreitet gewesen wäre. Vielmehr verweist er darauf, daß hier der Siedlungsabbruch nach dem jüdischen Krieg weniger ausgeprägt war, und daß bislang kaum systematische Grabungen der betreffenden Horizonte durchgeführt wurden.

Ein klares Indiz für die Verbreitung des Schreibens sieht Millard auch in der Art und Weise, wie steinerne Ossarien beschriftet waren, in denen die Einwohner in Familiengräbern die Knochen der Hinterbliebenen aufbewahrten. In der Regel sind die Namen der Verstorbenen in die Behälter eingeritzt oder mit Holzkohle aufgemalt. In etlichen Fällen ist unschwer erkennbar, daß der jeweilige Schreiber wenig geübt war, was darauf schließen läßt, daß es vermutlich ein Angehöriger, jedenfalls kein professioneller Schreiber war. Der Autor faßt seine These zusammen: „... die archäologischen Entdeckungen und andere Beweisketten belegen, daß Lesen und Schreiben in den Tagen Jesu in Palästina weit verbreitet war. Ist das wahr, dann gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, daß auch Augenzeugenberichte davon existierten, was Jesus gesagt und getan hatte.“

UZ

[Millard A (2003) Literacy in the Time of Jesus. Biblical Archaeological Review 29, No.4, 37-45.]


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B„Und der Herr konnte es nicht mehr ertragen wegen der Bosheit eurer Taten, wegen der Greuel, die ihr verübt habt. Darum ist euer Land zur Trümmerstätte, zum Entsetzen und zum Fluch geworden, ohne Bewohner, wie es an diesem Tag ist.“ So schildert der Prophet Jeremia das Land Juda nach der Eroberung durch Nebukadnezar im Jahre 586 v.Chr. Zweimal hatte der Babylonier-König Teile der Bevölkerung nach Babylon deportieren lassen, und wenig später hatte seine bevorstehende Strafaktion nach der Ermordung Gedaljas eine größere Fluchtbewegung nach Ägypten ausgelöst. Aber war das Land tatsächlich „menschenleer“, wie Jeremia es beschreibt, oder war von Deportation und Flucht nur eine begrenzte Oberschicht betroffen? Die Bibel selbst berichtet davon, daß die Geringen zur Pflege des Landes zurückgelassen wurden. Tatsächlich haben verschiedene Wissenschaftler, u.a. Gabriel Barkai von der Bar Ilan-Universität bei Tel Aviv, in den 1990er Jahren aufgrund verschiedener archäologischer Funde vermutet, daß das Land keineswegs entvölkert war. Barkai hat sogar eine kontinuierliche Besiedlung Jerusalems angenommen. Da aus der relativ kurzen babylonischen Periode kaum Reste erhalten sind, galt die wissenschaftliche Diskussion bislang als sehr schwierig.

In dieser Situation hat Avraham Faust, wie Barkai Archäologe an der Bar Ilan-Universität einen ganz neuen Ansatz gefunden, der darin besteht, nach Spuren der Ereignisse nicht in den Städten, sondern im ländlich geprägten Raum zu suchen. Die Idee ist ebenso einfach wie bestechend. Aufgrund bestimmter Standortvorteile wie der Möglichkeit der Wasserversorgung für eine größere Anzahl Menschen oder der wirtschaftlich wichtigen Lokalisierung an Handelsrouten wurden antike Städte nach einer Zerstörung gewöhnlich an der alten Stelle wieder aufgebaut. Für ländliche Siedlungen, die an den Standort sehr viel geringere Anforderungen stellten, bestand keine solche Notwendigkeit. Deshalb wurden kleine Dörfer, Weiler oder Bauerngehöfte nach einem längeren Siedlungsabbruch auch nur selten auf den alten Ruinen wiedererrichtet. Sehr viel zweckmäßiger war die Wahl eines neuen Baugrundes in der Umgebung. Es waren solche Überlegungen, die die Aufmerksamkeit Fausts auf die landwirtschaftlich geprägten Gebiete Judas richteten. Der Wissenschaftler untersuchte kleine Siedlungen im Umland von Jerusalem, in der Gegend von Bethlehem und andere Flecken. Das Ergebnis war verblüffend. Faust merkt dazu an: „Das Bild, das sich für all die oben diskutierten Fundorte ergibt, ist ganz eindeutig. Es existiert nur an sehr wenigen Stellen eine Kontinuität zwischen der Eisenzeit [vor der babylonischen Eroberung, U.Z.] und der persischen Periode [nach der Rückkehr aus dem Exil, U.Z.]. Für die außerordentlich wenigen Orte, für die eine Kontinuität existiert haben könnte, ist es schwer zu entscheiden, ob die neuen Siedlungen nicht zufällig auf den älteren Stellen errichtet wurden.“

Um sein Modell weiter zu testen, nahm Faust zusätzlich den Befund in Regionen außerhalb Judas, u.a. im samaritischen Bergland und in Nordsamaria in Augenschein. War seine Deutung des Befundes für Juda richtig, wonach das unterbrochene Siedlungsmuster ein starkes Indiz für eine weitgehende Entvölkerung des Landes war, so sollte sich für die Gebiete jenseits von Judas Grenzen, die von den Ereignissen nicht in gleicher Weise betroffen waren, ein anderes Bild ergeben. Auch diese These bestätigte sich. Hinsichtlich des samaritanischen Berglandes faßt der Autor den Befund als „beeindruckende Kontinuität vom achten Jahrhundert v.Chr. bis in die Hellenistische Zeit [im dritten Jahrhundert, U.Z.]“ zusammen. Der fast vollständige Siedlungsabbruch im ländlichen Gebiet von Juda offenbart deshalb, daß die Aussage Jeremias vom „Land ohne Bewohner“ in keiner Weise übertrieben war.

UZ

[Faust A (2003) Judah in the Sixth Century BCE in a Rural Perspective. Palestine Exploration Quarterly 135, No.1, 37-53.]


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