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Langzeit-Evolutionsexperiment mit Escherichia coli

Empirischer Befund für neue Funktion durch Mutation?

von Harald Binder

Studium Integrale Journal
15. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2008
Seite 96 - 98


Zusammenfassung: Seit ca. 20 Jahren läuft in einem amerikanischen Labor für Mikrobiologie ein Langzeit-Evolutionsexperiment mit E. coli-Bakterien. Über viele tausend Generationen sind inzwischen unter verschiedensten Bedingungen die Mikroorganismen gezüchtet und untersucht worden. Im Rahmen dieser Versuchsreihe ist eine unüberschaubar große Zahl von Mutanten aufgetreten. Nun wurde erstmals eine „neue“ Funktion beschrieben. Obwohl die entsprechenden Bakterien bereits seit längerer Zeit gründlich untersucht werden, ist noch nicht klar, warum es so lange dauert, bis eine „neue“ Funktion auftritt und welche genetischen Prozesse zugrunde liegen.

1988 begann der amerikanische Mikrobiologe Richard E. Lenski mit Mitarbeitern ein Langzeit-Evolutionsexperiment (LZEE) mit Escherichia coli-Bakterien. Die kurze Generationszeit von E. coli erlaubt es unter den gewählten Kulturbedingungen im Durchschnitt ca. 6,6 Generationen/Tag zu erzeugen. Bisher folgten auf diese Weise mehr als 44 000 Generationen aufeinander. Immer nach 500 Generationen werden Proben tief gefroren, sodass ein umfangreiches Archiv von reaktivierbaren Bakterien entstanden ist, die für Studien zu unterschiedlichsten Fragestellungen verfügbar sind. In gewissem Sinn sind damit Spuren in die Geschichte der Generationen von aktuellen Bakterienkolonien zugänglich, vergleichbar den Fossilien zum Studium von Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte; die Autoren verwenden hier tatsächlich auch den Begriff „fossil record“.




Fitnessgewinn

In einem Übersichtsartikel bemerken Elena & Lenski (2003), dass verschiedene Evolutionsexperimente mit Bakterien und Viren einen charakteristischen Befund zeigen, nämlich dass die Zunahme der Fitness einer Kultur unter bestimmten Bedingungen zunächst stark ansteigt, um dann immer mehr abzunehmen. Die Funktion (Zunahme der Fitness) erreicht ein Plateau, obwohl die Fitness auch nach vielen Generationen immer noch leicht ansteigen kann. In seinem LZE-Experiment mit E. coli findet Lenski für die ersten 5000 Generationen einen Fitnessgewinn, der den der Generationen 15 000 bis 20 000 um das Zehnfache übersteigt.

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Wiederholbarkeit von Evolution?
Die Reproduzierbarkeit
evolutionärer Prozesse kann
experimentell getestet werden.

Die Frage, ob Evolutionsprozesse wiederholbar sind, wird immer wieder von verschiedenen Autoren kontrovers diskutiert. Der Paläontologe S. J. Gould (1989) beschrieb als Gedankenexperiment die Idee, die „Aufnahmen“ mit der Geschichte des Lebens zurückzuspulen und diese noch einmal ablaufen zu lassen. Nach seiner Ansicht ist es äußerst unwahrscheinlich, dass eine Wiederholung dasselbe Resultat liefert, da Evolutionsprozesse nicht reproduzierbar sind. Gould stellt allerdings bedauernd fest, dass dieses Experiment niemals durchgeführt werden kann. Das ist für den Gegenstand seiner Monographie – die berühmte Fossillagerstätte Burgess Shale – sicher zutreffend, aber LZEE mit Mikroorganismen, so wie sie von Lenski (2004) konzipiert wurden, eröffnen aufgrund ihrer sehr kurzen Generationszeit sowie der weitgehenden Reaktivierbarkeit der tiefgefrorenen Mikroorganismen genau diese Möglichkeit. Damit kann die Reproduzierbarkeit evolutionärer Prozesse experimentell getestet werden.

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Eine neue Funktion

Nun berichten Blount et al. (2008) von E. coli-Bakterien aus dem LZE-Experiment, die in der Lage sind, Zitronensäure (Citrat) als Kohlenstoffquelle zu nutzen – eine neue Fähigkeit, die den Bakterien zuvor fehlte. Im Titel der Arbeit führen die Autoren an, damit die Entwicklung einer entscheidenden Neuerung in E. coli experimentell nachgewiesen zu haben. Obwohl E. coli über einen vollständigen Tricarbonsäurezyklus (Zitronensäurezyklus) verfügt, kann das Bakterium Citrat aus dem Nährmedium in Gegenwart von Sauerstoff nicht nutzen, sehr wohl jedoch unter anoxischen (sauerstofffreien) Bedingungen. Dieses Merkmal ist so charakteristisch, dass es lange zur Unterscheidung von anderen Bakterienarten genutzt worden ist. Inzwischen sind einzelne E. coli-Varianten beschrieben worden, die durch Aufnahme und Integration fremder Gene (evtl. auch durch Überexpression1 von eigenen Genen) in der Lage sind Citrat zu nutzen.

Abb. 1: Zum experimentellen Vergleich der Vitalität von zwei Proben aus dem „fossil record“ des Langzeit-Evolutionsexperiments mit E. coli lässt man diese zunächst jeweils in identischem Medium wachsen, mischt und verdünnt die Kulturen anschließend und untersucht, welche Kultur in der direkten Konkurrenz sich unter den gewählten Bedingungen schneller vermehrt. (Nach Elena & Lenski 2003)

E. coli verfügt also grundsätzlich über die enzymatische Ausstattung, Citrat zu verstoffwechseln, kann jedoch in Gegenwart von Sauerstoff kein Citrat aus der Umgebung in die Zelle transportieren. Obwohl in Lenskis Züchtungsprogramm von E. coli von Anfang an vergleichsweise wenig Glucose (139 µM) und viel Zitronensäure (1700 µM) im Nährmedium angeboten wurde, trat in mehr als 30 000 Generationen keine Variante auf, die Citrat hätte verwerten können. Ausgangspunkt der Veröffentlichung von Blount et al. (2008) war nun aber die Beobachtung, dass nach 31 500 Generationen einmal die Fähigkeit zur Aufnahme von Zitronensäure aus dem Nährmedium aufgetreten ist. Die Autoren zeigen sich verblüfft darüber, dass es zu dieser entscheidenden Neuerung erst so spät kam, obwohl die allgemeine Steigerung der Vitalität im Verlauf des Züchtungsprogramms in allen Populationen deutlich nachgelassen hatte. Unter Nutzung ihres Archivs in Form von tiefgefrorenen Proben früherer Bakteriengenerationen aus dem Züchtungsprogamm wollten die Autoren das späte Auftreten von E.coli-Varianten, die Citrat verwerten können (Cit+), untersuchen. Dazu stellten sie zwei alternative Hypothesen auf:

  • Außergewöhnlich selten auftretende Mutationen sind für die Entstehung von Cit+ verantwortlich.
  • Cit+ beruht auf einer oder mehreren Mutationen, die sich in früheren Generationen ereignet haben und eine günstige Ausgangsposition für das Auftreten von Cit+ darstellen. In diesem Fall wäre Cit+ abhängig von der Vorgeschichte der Population oder historisch bedingt („historical contingency“).

In verschiedenen Versuchsreihen legen Blount et al. mit Proben aus unterschiedlichen Generationen ihres LZEE-Archivs E.coli-Kulturen an und züchten diese über viele Generationen weiter. Damit versuchen sie in gewisser Weise die Geschichte der jeweiligen Kultur zu wiederholen. Sie testen jeweils auf das Auftreten von Cit+. Experimentell bedeutet das einen sehr umfangreichen Aufwand, da insgesamt mehrere tausend Kulturen gehandhabt werden müssen. Die Resultate werden statistisch analysiert.Die ermittelte Mutationsrate für die Entstehung von Cit+-Varianten ausgehend von den E.coli-Bakterien, mit denen das Langzeitexperiment begonnen wurde, ist ausgesprochen klein. Mit einer ermittelten Obergrenze für diese Mutationsrate von 3,6 x 10–13 pro Zellgeneration ist sie drei Größenordnungen geringer als die typische Mutationsrate für Punktmutationen (2,3 x 10–10/ Zellgeneration; diese wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls experimentell überprüft). Trotzdem entwickelte sich schließlich eine Population mit der Fähigkeit, Zitronensäure aufzunehmen (Cit+), während alle anderen über mehr als 40 000 Generationen Cit blieben. Die Experimente geben einen statistisch signifikanten Hinweis darauf, dass das Auftreten von Cit+ von der Archivprobe abhängig, d.h. historisch bedingt ist. Die Autoren ziehen daraus den Schluss, dass bevor Cit+ erstmals auftreten kann, eine oder mehrere Mutationen vorausgegangen sein müssen, um schließlich die Mutation zu Cit+ zu ermöglichen.

Im LZEE mit E. coli scheint zunächst nach ca. 31 500 Generationen eine schwache Variante mit schwacher Cit+-Funktion aufzutreten, die mit Cit–Varianten konkurriert, ohne diese jemals komplett zu verdrängen. In einem weiteren Ereignis scheint die Effektivität der Nutzung von Citrat (Cit+-Funktion) verbessert zu werden.

Die Wiederholungsexperimente deuten nach Ansicht der Autoren auf eine noch komplexere Situation hin. Um die genetischen Vorgänge hinter diesen Erscheinungen zu ergründen, sind weitere genetische Untersuchungen geplant wie z.B. Sequenzierungen kompletter Genome von E. coli-Mutanten. Dabei ist zu erwarten, dass im Vergleich zu den E. coli-Bakterien, mit welchen das LZEE begonnen wurde, verschiedene Mutationen zur Cit+-Funktion führen. Blount et al. hoffen jedoch, die entscheidenden Mutationen identifizieren zu können und mit diesen Einsichten sollen dann alle 19 Cit+-Varianten verglichen werden, die im Verlauf der Wiederholungsexperimente aufgetreten sind.

Über den physiologischen Mechanismus, der die Cit+-Funktion ermöglicht, kann bisher nur spekuliert werden; bekannt ist nur der neu aufgetretene Phänotyp, der Citrat verwerten kann. Ob ein „verborgenes“ („cryptic“), durch Mutationen funktionslos gewordenes Transportprotein wieder reaktiviert worden ist (was die Autoren aufgrund der langen Nichtbenutzung für unwahrscheinlich halten) oder ob ein funktionsfähiges Transportprotein umgebaut und für den Transport von Zitronensäure durch die Membran nutzbar gemacht wurde (diese Vorstellung favorisieren die Autoren) muss zukünftig durch entsprechende Studien geklärt werden.

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Grenzen der Evolution?
Handelt es sich wirklich um
eine „key innovation“, wie die Autoren
in ihrem Titel behaupten?

In einer Buchveröffentlichung, in der die Grenzen dessen, was durch bekannte evolutive Prozesse erklärbar ist, untersucht werden sollen, greift M. Behe (2007) die Experimente von Lenski und seinen Mitarbeitern auf. Behe stellt dar, dass die Experimente (er zitiert Reviewbeiträge von Lenski bis 2004) nichts grundsätzlich Neues ergeben hätten, keine neuen Wechselwirkungen zwischen Proteinen und keine neuen molekularen Maschinen (Enzyme). Einige Bakterienpopulationen verloren die Fähigkeiten zur Reparatur von DNA, zur Synthese von Ribose (ein Zucker-Baustein für die RNA) oder es traten Veränderungen in einem Regulationsgen (spoT) auf, welches die Aktivität von 59 anderen Genen steuert. Eine wahrscheinliche Erklärung für die vorteilhafte Auswirkung dieser Änderungen liegt darin, dass das Bakterium dadurch – unter den gegebenen Umständen – Energie einsparen kann. Die Publikation von Blount et al. (2008) diskutiert Behe in einem Internetforum am 6. 6. 2008 (http://www.amazon.com/gp/blog/...). Er sieht seine Argumente durch die Ergebnisse von Blount und Mitarbeitern bestätigt. In „The Edge of Evolution“ hatte Behe dargelegt, dass die Notwendigkeit der Kopplung verschiedener sich nacheinander ereignender Mutationen für das Auftreten einer neuen bzw. veränderten Funktion (Änderung im Phänotyp) diese extrem unwahrscheinlich werden lassen – so unwahrscheinlich, dass man davon ausgehen muss, dass die derzeit bekannten Evolutionsmechanismen nicht für die Entstehung der neuen Funktion ausreichen.

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Bleibende Kontroverse

Die Veröffentlichung von Blount et al. (2008) hat große Aufmerksamkeit erfahren und kontroverse Diskussionen ausgelöst. Sehen viele Biologen in den Resultaten einen empirischen Beleg für die Entstehung neuer Funktionen, so wähnen sich andere Wissenschaftler, die die Wirksamkeit von Mutationen für begrenzt halten, ebenfalls in ihrer Position bestätigt. Beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis scheint eine Klärung nicht möglich, da die Details der zugrundeliegenden Veränderungen nicht genügend geklärt sind. Das Auftreten mehrerer Mutationen als Ursache für die neue Funktion wird von Blount und Coautoren zwar aus den experimentellen Befunden geschlossen, ist derzeit aber noch nicht anhand detaillierter Studien verifiziert. Die Tatsache, dass Lenski und Mitarbeiter diesen Befund vor der Veröffentlichung erst noch über Jahre prüfen wollen und dann doch bereits publizieren, ohne die molekularbiologischen Details oder die genaue Funktion zu kennen, wirft auch ein Licht auf die Brisanz und Bedeutung, die solchen Erscheinungen zugemessen wird.

Gespannt darf man auch darauf sein, als wie „neu“ sich die entscheidende Neuerung bei E. coli herausstellen wird. Handelt es sich wirklich um eine „key innovation“, wie die Autoren in ihrem Titel behaupten, oder ist die neue Funktion vielleicht durch Reaktivierung einer „verborgenen“ Transportfunktion entstanden, durch Verlust oder Änderung der Spezifität eines Transportkanals? Dies kann derzeit aufgrund fehlender Informationen noch nicht ernsthaft diskutiert werden und bedarf der Aufklärung durch noch ausstehende Studien.

Für eine differenzierte Würdigung und Bewertung sollten die Details der neuen Funktion des Citrattransports in die Zelle in Gegenwart von Sauerstoff untersucht und veröffentlicht werden. Diese Experimente werden in Lenskis Labor vorgenommen und man darf auf deren Publikation gespannt sein, auch wenn erfahrene Beobachter und Teilnehmer der Diskussion nicht davon ausgehen werden, dass mit den detaillierten Hintergrundinformationen die Auseinandersetzung über Leistungsfähigkeit und Grenzen evolutionärer Mechanismen abgeschlossen sein wird.

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Anmerkung

1 Überexpression: ein Protein wird aufgrund einer Änderung in der Genregulation (kann auch durch molekularbiologische Techniken verursacht werden) in höherer Konzentration als üblich synthetisiert.

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Literatur

Behe M (2007) The Edge of Evolution.
The search for the limits of Darwinism. New York.
Blount ZD, Borland CZ & Lenski RE (2008)
Historical contingency and the evolution of a key innovation in an experimental population of Escherichia coli. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 105, 7899-7906.
Elena SF & Lenski RE (2003)
Evolution experiments with microorganisms: the dynamics and the genetic bases of adaption. Nature Rev. Gen. 4, 457-469.
Gould SJ (1989)
Wonderful life: the Burgess Shale and the nature of history. New York.
Lenski RE (2004)
Phenotypic and genomic evolution during a 20,000-generation experiment with the bacterium Escherichia coli. Plant Breed. Rev. 24, 225-265.
Papadopoulos D, Schneider D, Meier-Weiss J, Arber W, Lenski RE & Blot M (1999)
Genomic evolution during a 10 000 – generation experiment with bacteria. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 96, 3807-3812.

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