Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 13. Jg. Heft 1 - Mai 2006
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Ein Mythos des „Wissenschaftszeitalters“:
Das Weltbild von der Erdscheibe im Mittelalter

von Natale Guido Cincinnati

Studium Integrale Journal
13. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2006
Seite 31 - 33


Zusammenfassung: Es ist eine weit verbreitete Annahme, daß im abendländischen Mittelalter die Vorstellung von einer Erde in Scheibenform vorherrschte. Dieses Weltbild von der Erdscheibe sei nicht nur im Volksglauben fest verankert gewesen, sondern es habe sich dabei auch um eine anerkannte Doktrin in der Gelehrtenwelt gehandelt. Es wurde jedoch bereits mehrfach nachgewiesen, daß ein solches Weltbild nie den Status einer allgemein anerkannten Lehrmeinung einnahm. Historiker konnten stattdessen aufzeigen, daß die Verbindung von mittelalterlicher Welt und Erdscheibenlehre eine Erfindung der Aufklärung und des post-aufklärerischen Wissenschaftszeitalters im 19. Jahrhundert war, um das mittelalterliche Denken gegenüber der Moderne als besonders rückständig darzustellen.

Abb. 1: Der Zusammenbruch des mittelalterlichen Weltbildes in Camille Flammarions Meteorologie populaire, Paris 1888.

Die Auffassung, daß man sich im Mittelalter die Erde als Scheibe dachte, ist nach wie vor weit verbreitet und kann als gängige Vorstellung gelten (Abb. 1). Sie findet sich in populärwissenschaftlichen Sachbüchern (z.B. Brash 1993, 131) ebenso wie in wissenschaftlichen Lehrbüchern (Herrmann 1973, 15) und fügt sich nahtlos in das Bild eines religiös bestimmten Mittelalters, das von einem Christentum dominiert wurde, welches die exakten Wissenschaften ablehnte (vgl. Keppler 1990, 15).

Diese weit verbreitete Ansicht entspricht jedoch keineswegs den historischen Tatsachen. Bereits Aristoteles (384-322 v.Chr.) war von der Kugelgestalt der Erde überzeugt und begründete dies unter anderem mit der runden Begrenzungslinie des Erdschattens bei einer Mondfinsternis. Und Eratosthenes von Kyrene (284-202 oder 194 v.Chr.) führte sogar eine Berechnung des Erdumfangs durch. Er kam auf ein Ergebnis von 250.000 Stadien (= 37.125 km), welches dem tatsächlichen äquatorialen Erdumfang von 40.075,017 km schon erstaunlich nahe kam. Diese und weitere Ergebnisse der antiken Mathematiker und Astronomen standen den Gelehrten des Mittelalters zahlreich zur Verfügung (Hertel & Hertel 1983, 14-15).

Simek (1992, 38-52) sieht für das Mittelalter drei wesentliche Quellengruppen, welche die Auffassung von einer kugelförmigen Erde deutlich dokumentieren: Die auf den frühmittelalterlich gelehrten Werken beruhenden Enzyklopädien und Kompendien der kirchlichen Tradition, die astronomischen Handbücher des Hochmittelalters und die literarischen und enzyklopädischen Werke des Hoch- und Spätmittelalters, welche bereits praktische Schlüsse aus der Kugelform zogen. Alle drei Quellengruppen lassen keinen Zweifel daran, daß eine Scheibenform der Erde nie eine weit verbreitete oder gar anerkannte Lehrmeinung der weltlichen oder kirchlichen Gelehrtenwelt war.

Abb. 2: Kirchenvater Augustinus (links) predigt der Menschheit: Die Darstellung aus dem 15. Jahrhundert zeigt auch Antipoden, Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel.

Vielmehr galten bis zum Ende des Mittelalters die platonisch-aristotelische Sphärentheorie sowie Berechnungen des Astronomen und ersten wissenschaftlichen Kartographen Claudius Ptolemäus (ca.100-ca.160), nach dessen Ergebnissen die Erde eine Kugel mit einem Umfang von 180.000 Stadien war (Hertel & Hertel 1983, 15-16). Um 400 n. Chr. konstatierte auch Augustinus (354-430) die Kugelgestalt der Erde, die als moles globosa im Zentrum des Weltalls stehe. Und spätestens seit der karolingischen Renaissance des 8. Jahrhunderts zählte das Wissen um die Kugelgestalt der Erde zum allgemeinen Gut der Gelehrten (Simek 1992, 38), wie es auch die gesamte mittelalterliche Scholastik eindeutig zeigt.

Es stellt sich daher die Frage, wie es überhaupt zur Entstehung des „wissenschaftlichen Mythos“ von der flachen Erdscheibe kommen konnte. Simek (1992) macht im wesentlichen drei Gründe dafür verantwortlich. So gab es tatsächlich einige wenige Kirchenväter der Spätantike, welche eine scheibenförmige Gestalt der Erde vertraten. Neben dem Kirchenlehrer Firmianus Lactantius (*um 250, †nach 317) und dem Bischof Severianus von Gabala (†um 408) ist hier vor allem der alexandrinische Mönch Kosmas (genannt Indikopleustes; 6. Jh.) zu nennen, der eine scheiben- oder trapezförmige Erde mit einem kastenartigen Himmel dem antiken Weltbild gegenüberstellte. Doch war Kosmas’ Lehre weder typisch für das Mittelalter noch beeinflußte sie dieses nachhaltig. Seine in Griechisch abgefaßte Topographia Christiana erfuhr keine Übersetzung ins Lateinische und wurde erst 1706 in Paris gedruckt, so daß Kosmas vor dem 17./18. Jahrhundert kaum Beachtung fand (Simek 1992, 12, 52-53).

Ein ebenfalls erst in der Moderne erfolgtes Mißverständnis führte zu einer falschen Interpretation der mittelalterlichen Antipodenfrage. Dabei ging es um einen weiteren Kontinent auf der anderen Erdseite und dessen mögliche Bewohner (Abb. 2). Die auf Augustinus beruhende kirchliche Ablehnung der Existenz menschlicher Antipoden wurde fälschlicherweise mit einer allgemeinen Ablehnung des Antipodenkontinents und gar der Kugelgestalt der Erde verwechselt. Beidem jedoch stand die kirchliche Lehrmeinung immer neutral gegenüber (Simek 1992, 53).

Ein drittes Mißverständnis betrifft die mittelalterlichen Weltkarten, insbesondere die Mappae mundi oder Radkarten. Ihre Darstellung der bewohnten Erde in Form eines Kreises, welcher durch ein eingezeichnetes „T“ die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika zeigt (Abb. 3), stellt lediglich eine Projektionsform dar, die den für Europa wesentlichen Teil der Erde in kurzer und verständlicher Weise darstellen sollte (Simek 1992, 52-53). Es sind didaktische Vereinfachungen der Kugel, wie von den Brincken schon 1976 aufzeigen konnte. Eine Auffassung von einer Scheibengestalt der Erde kann jedenfalls auch dieser Quelle nicht entnommen werden.

Abb. 3: Eine mappa mundi von 1472 auf der Grundlage der Weltbeschreibung des Isidor von Sevilla (7. Jh.). Das bewohnte Festland des Erdkreises ist schematisch unter die damals bekannten Kontinente aufgeteilt.

Noch einen Schritt weiter bei der Frage nach der Entstehung des „Mythos von der Erdscheibe“ geht Wolf (2004, 24 ff., 34). Demnach war es zur Zeit der Aufklärung, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die Absicht vieler Autoren, das Mittelalter möglichst rückständig erscheinen zu lassen und sich mit den eigenen Leistungen von einer vormodernen Phase des vermeintlich kulturellen Niedergangs abzugrenzen. Die Folge war eine gezielte und absichtliche Verfälschung des mittelalterlichen Weltbildes. Dazu wurde die Lehre von einer flachen Erde eingesetzt. Russel (1991) und Krüger (1999) konnten sogar wesentliche Protagonisten in diesem Diffamierungsprozeß ausfindig machen. So ist es am Beginn des 19. Jahrhunderts besonders eine romantisch beeinflußte Mittelalterhistorik, wie sie sich in dem Discours sur l’état des lettres au XIIIe siècle (Paris 1824) des Pierre-Claude-Francois Daunou (1716-1840) wiederfinden läßt und die sich auf den modernistischen Epochendiskurs der Renaissance und der frühen Neuzeit gründet (Krüger 2006). Auch der zur damaligen Zeit populäre Autor, Archäologe und Philologe Antoine-Jean Letronne (1787-1848) ist in diesem Kontext zu nennen (Wolf 2004, 24ff.).

Nach dem bekannten Evolutionsbiologen S. J. Gould (2000, 61-67) ist die Entstehung des „Flache-Erde-Mythos“ auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Darwins Theorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehen. Die durch Darwin entfachte Diskussion um die Entstehung der Lebewesen förderte die Ausbreitung einer Denkrichtung, welche einen jahrhundertealten Streit zwischen Naturwissenschaft und Religion sah. Mittelalterliche Kirchengelehrte, die eine Lehre von einer flachen Erde verordneten, paßten nur allzu gut in dieses Konzept. Zu den wesentlichen Vertretern dieser Anschauung zählten der Chemiker John W. Draper (1811-1882) sowie der Historiker und Politiker Andrew Dickson White (1832-1918).

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts tritt trotz neuer historischer Erkenntnisse keine nennenswerte Veränderung ein. Es wird an den Verwerfungen des Mittelalterbildes festgehalten, woraus sich schließen läßt, daß der Mythos vom unwissenden, scheibengläubigen Mittelalter zum Zwecke der Selbstvergewisserung der eigenen Modernität nach wie vor benötigt wird.

Zur Literaturliste

Literatur

Brash S (Hg., 1993)
Irrwege der Wissenschaft. Amsterdam.
von den Brinken A-D (1976)
Die Kugelgestalt der Erde in der Kartographie des Mittelalters. In: Archiv für Kulturgeschichte, 58, S. 77-95.
Gould SJ (2000)
Die späte Geburt einer flachen Erde. In: Gould SJ: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Streifzüge durch die Naturgeschichte. Frankfurt a. M., S. 53-70.
Hertel G & Hertel P (1983)
Ungelöste Rätsel alter Erdkarten. Gotha.
Herrmann J (1973)
dtv-Atlas zur Astronomie. München.
Keppler E (21990)
Sonne, Monde und Planeten. Was geschieht in unserem Sonnensystem? München.
Krüger R (1999)
Eine Welt ohne Amerika. Globusvorstellungen und europäisches Raumbewußtsein in den Kosmologien von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. Berlin.
Krüger R (2006)
Eine Welt ohne Amerika. Exposé, 1998. Internet: http://ling.kgw.tu-berlin.de/semiotik/deutsch/person/krueger/krueg03.htm (Zugriff am 22. 2. 2006).
Russel JB (1991)
Inventing the Flat Earth. Columbus and modern historians. New York, Westport, London.
Simek R (1992)
Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München.
Wolf J (2004)
Die Moderne erfindet sich ihr Mittelalter – oder wie aus der „mittelalterlichen Erdkugel“ eine „neuzeitliche Erdscheibe“ wurde. Stuttgart.

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