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Gene-tinkering & Netzwerke:
unerwartete Einsichten

von Niko Winkler

Studium Integrale Journal
12. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2005
Seite 29 - 31


Zusammenfassung: Die Eigenschaften biologischer Netzwerke gleichen verblüffend Netzwerken, die durch Ingenieure erdacht wurden. Drei hauptsächliche Eigenschaften charakterisieren beide: modularer Aufbau, Robustheit gegenüber Bauteiltoleranzen und die Verwendung wiederkehrender Elemente. Technische Netzwerke, die einer im Computer simulierten Evolution ausgesetzt wurden (neuronale Netzwerke) teilen diese Eigenschaften nicht. Dieser Befund ist ein weiterer Hinweis auf einen Schöpfer in biologischen Systemen.

Die Proteine der Lebewesen bestehen häufig aus denselben Abfolgen von Aminosäuren. Man nennt solche Abschnitte Motive oder Domänen. Erstaunlicherweise kommen Proteindomänen (und die zugrundeliegenden Genabschnitte) im ganzen Organismenreich immer wieder in ähnlicher oder sogar gleicher Form vor, jedoch oft in ganz unterschiedlichen Funktionszusammenhängen. Es hat sich herausgestellt, daß der Unterschied zwischen zwei Organismen folglich nicht so sehr in der Anzahl verschiedener Gene, sondern im unterschiedlichen Zusammenbau gleicher oder ähnlicher Gene oder Genabschnitte besteht. „Die gesamte lebende Welt läßt sich also mit einer Art riesigem Baukasten vergleichen“ (Jacob 2000).




Gene-tinkering

Wie kam es zu diesen unerwarteten Kombinationen? Francois Jacob vermutete als erster unbekannte evolutive Prozesse, die bestehende Domänen aneinander„geflickt“ oder Proteine in neue Funktionszusammenhänge eingeschleust haben. Diese weitgehend hypothetischen Vorgänge werden unter gene-tinkering („Flickschusterei“ mit Genen) subsumiert; eine allgemein verwendete Definition für diesen Begriff gibt es allerdings nicht (vgl. dazu Neuhaus 2002; vgl. Abb. 1).

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Komplexität
Abb. 1: Stark schematisierte Darstellung des hypothetischen „Gene-Tinkerings“ am Beispiel des Auges. Ein Augen-Prototyp wird zunächst als gegeben vorausgesetzt. Die weitere hypothetische evolutive Entwicklung erfolgt durch sukzessive Einfügung weiterer Gene, die unter der Kontrolle des Master-Gens (Hox-Gen, hier Pax-6) stehen. Die verschiedenen Augentypen sollen demnach durch unterschiedlichen Einbau untergeordneter Gene entstanden sein. Das Hox-Gen bleibt dasselbe und kann daher die Entwicklung verschiedener Augentypen induzieren.

Biologische Objekte sind durchweg äußerst komplex. Betrachten wir allein das Auge, so sind an dessen Bau ca. 2000-2500 Gene beteiligt, angefangen vom Master-Schalter bis hin zur lichtempfindlichen Proteingruppe. Das besondere an den Master-Genen, die Hox-Gene genannt werden, ist ihre Position am Anfang einer ganzen Kaskade von verschiedenen Genen. Die gesamte Kaskade kann zur Entwicklung eines bestimmten Organs, eines bestimmten Gewebes oder auch einer ganzen Extremität führen. Beispielsweise schaltet in Fruchtfliegen der Gattung Drosophila ein Hox-Gen namens Pax-6 die Augenentwicklung an. Wird Pax-6 ausgeschaltet, so entwickelt die Fliege keine Augen. Induziert man das Protein aber künstlich an einer Stelle, wo es normalerweise nichts zu suchen hat, z.B. im Brustbereich der Fliege, so wächst dort ein Auge. Die Faszination erhalten die Hox-Proteine dadurch, daß sie mehr oder weniger zwischen sehr verschiedenen Organismen austauschbar sind. Ersetzt man in der Fruchtfliege das Pax-6 durch das Mäuse-Protein Eyeless, so entwickelt sich ein ganz normales Auge, natürlich ein Fliegenauge, denn die Hox-Gene kodieren nicht selbst für die Bauteile der Augen, sondern sie schalten die Entwicklung der Augen nur ein (Gehring & Ikeo 1999; vergleiche auch Ruvinsky 2000, Neuhaus 2002). Aufgrund dieser Befunde wird vom Auge auch als „Modul“ gesprochen (s.u.). Es ist eine für sich stehende Einheit, die mit einem genetischen Schalter an nahezu beliebigen Stellen eingeschaltet werden kann (Oakley 2003).

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Netzwerke

Komplexe biologische Systeme sind gerade wegen ihrer Komplexität nur schwer zu erfassen. Das ist der Grund, warum man bei der vermuteten Evolution von Augen, beginnend bei einer einfachen lichtempfindlichen Zelle bis hin zu den komplizierten Linsenaugen der Wirbeltiere oder den Komplexaugen der Insekten, bislang auf mehr oder weniger gut begründete Vermutungen angewiesen ist. Neben der Entstehung von Organen entziehen sich auch biochemische Abläufe in den Zellen mit ihrer schier unübersehbaren Menge an Reaktionen unserem Vorstellungsvermögen. Es gibt zwar schon seit einigen Jahren großformatige Poster mit den wichtigsten biochemischen Reaktionen in Pflanzen- und Tierzellen, doch bleiben viele Details außen vor. Als neue Darstellungsformen für komplexe biologische Systeme breiten sich Netzwerk-Darstellungen immer mehr aus. Pfeile geben Richtungen von Interaktionen an, diese können verschieden breit gestaltet werden und mit Details (z.B. Co-Regulation, zeitlicher Verlauf etc.) beschriftet werden. Computerunterstützte Systeme können diese Netzwerke darstellen, visualisieren und in silico Analysen (im Computer simuliert) zulassen.

In der Technik hingegen werden seit längerem komplexe Systeme mit Erfolg in Form von Netzwerken dargestellt. Interessanterweise kommt nun genau von dieser Seite Kritik am Modell der Evolution als „Kesselflicker“. Worin unterscheidet sich das Produkt von jemandem, der an einem Netzwerk so lange herumflickt, bis es zufriedenstellend funktioniert, vom Produkt eines Ingenieurs? Ein Ingenieur würde Strukturen im Voraus planen und Konstruktionspläne zeichnen. Ein Bastler (ein blinder Uhrmacher, um mit Dawkins (1990) zu reden) würde nehmen, was gerade zur Hand ist, um irgendwelche Interaktionen zu erstellen und solange herumflicken, bis sie gut genug sind, um zu funktionieren. Alon (2003) schreibt dazu (Übersetzung vom Autor): „Es ist deshalb erstaunlich, daß die Lösungen, die durch die [biologische] Evolution gefunden wurden, viele Gemeinsamkeiten mit einem guten technischen Design besitzen.“ Die drei wichtigsten Prinzipien, die für biologische und technische Netzwerke gleichermaßen gelten, sind:

  • modularer Aufbau
  • Robustheit gegenüber Bauteiltoleranzen, und
  • die Verwendung wiederkehrender Elemente.
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Module und Wiederverwendung

Die „Verwendung wiederkehrender Elemente“ beinhaltet genau jenes Phänomen, das Jacob (1977) veranlaßte, von einem „Baukasten“ zu sprechen (Lavorgna et al. 2001). Auch das erste genannte Prinzip biologischer Netzwerke, die Modularität, weist in jene Richtung. Warum ist es daher erstaunlich, daß technische (von einem Ingenieur erstellte) und biologische (angeblich evolutiv entstandene) Netzwerke einander ähneln?

Abb. 2: Nicht-modulare (a) und modulare Netzwerke (b).

Es gibt in den Computerwissenschaften den Versuch, künstliche „neuronale Netzwerke“ durch einen evolutiven Prozeß zu optimieren. Diese neuronalen Netzwerke verarbeiten Information (Input) zu einem gewünschtem Ergebnis (Output). Ungleich echten biologischen Netzwerken sind diese künstlichen neuronalen Netze aber nicht modular. Jeder Knotenpunkt in diesem Netzwerk nimmt an vielen verschiedenen Aufgaben teil (Abb. 2a), während in modularen Netzwerken sozusagen „Unternetzwerke“ existieren, die nur mit sehr wenigen Verbindungen in das gesamte Netzwerk eingefügt sind (Abb. 2b). Gleichzeitig stellt man fest, daß künstliche neuronale Netze (mit ihrer nicht-modularen Struktur) besser für eine gewünschte Aufgabe geeignet sind als vergleichbare modulare Netzwerke. Ein solches Netzwerk, in dem jede Komponente mit jeder anderen optimal verknüpft ist, kann sich jedoch kaum mehr neuen Bedingungen (z.B. veränderte Umwelt) anpassen, das Netzwerk erscheint „eingefroren“ (Alon 2003; Abb. 2a). In modularen Netzwerken hingegen, wie sie in Lebewesen und technischen Systemen vorkommen, können einzelne Komponenten (die Module oder wiederkehrende Einheiten) ausgetauscht oder verändert werden, um sich neuen äußeren Bedingungen anzupassen.

Ein Beispiel: Ist in einem Computer das Modul „Festplatte“ zu klein, so kann man eine neue, größere einbauen. Ein Beispiel aus der Bakterienwelt wäre die Erschließung einer neuen Nahrungsquelle durch Abwandlung vorhandener Stoffwechselwege. In beiden Fällen ermöglicht erst die Modularität den einfachen Wechsel, bzw. man kann deutlicher formulieren: Modulare Netzwerke sind notwendige Voraussetzungen für mikroevolutiven Wandel von Lebewesen. Gleichzeitig stellte man fest, daß Netzwerke, die durch eine Labor-Evolution entwickelt wurden, eben nicht modular aufgebaut sind, so daß Wissenschaftler ernüchtert feststellen: „[…] die Frage, wie Modularität in der Natur entstanden ist, hat sich zu einem kritischen Punkt entwickelt“ (zitiert nach Lipson et al. 2002).

In der Summe läßt sich festhalten, daß bei genauerer Betrachtung eben jenes von Jacob (1977) beobachtete Baukastensystem in Lebewesen (entspricht „modularen Netzwerken“) eher für einen Designer sprechen als gegen ihn. Netzwerke, die im Computer evolviert wurden, funktionieren zwar besser (erscheinen daher dem oberflächlichen Betrachter weniger „hingeschustert“), sie sind aber nicht modular, und damit weder fehlertolerant noch flexibel genug, um Lebewesen die notwendige Anpassung (= Mikroevolution) zu ermöglichen. Die Frage nach der Makroevolution, also der Entstehung neuer Strukturen (oder Modulen), nicht deren bloße Abwandlung, bleibt weiterhin unbeantwortet, und Alon (2003) formuliert – mit eigenen Worten: „Es erhebt sich [daraus] eine fundamentale wissenschaftliche Herausforderung: Diejenigen Naturgesetze zu verstehen, die evolvierte und kreierte Systeme miteinander verbinden.“ Könnte es nicht umgekehrt sein, daß sich natürliche (angeblich evolvierte) und technische (kreierte) Systeme deshalb so verblüffend ähneln, weil beide geschaffen wurden?

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Theologische Implikationen

Interessant sind neben den rein „naturwissenschaftlichen“ Daten und deren Diskussion auch die Betrachtung des weltanschaulichen Hintergrunds, bei der Annahme eines „Tinkers“. Zur Illustration ein Zitat aus einem Fachartikel über die Evolution der DNA am Beginn des Lebens: „Früh in der Geschichte der DNA ersetzte Thymin das Uracil, wodurch – kurzsichtig – ein Problem bei der Datenspeicherung genetischer Information behoben wurde, nämlich die Mutation von Cytosin zu Uracil durch Deaminierung. Ein Ingenieur hätte Cytosin ersetzt, doch Evolution ist ein Flickschuster (Tinkerer) und kein Techniker. Durch Beibehaltung des Cytosins und der Ersetzung des Uracils wurde das Problem nie beseitigt, es kam wieder zurück bei der Entwicklung der DNA-Methylierung“ (übersetzt nach Poole et al. 2001). Das genaue Verständnis der zugrundeliegenden biochemischen Abläufe tut hier nichts zur Sache. Allein der Satz „ein Ingenieur hätte“ besagt nun nicht, daß Evolution „dumm“ ist.

„Die Frage, wie Modulariät in der Natur entstanden ist, hat sich zu einem kritischen Punkt entwickelt.“

Evolution ist ein geistloser Prozeß, der weder dumm noch schlau sein kann. Der Satz „ein Ingenieur hätte“ sagt etwas über das dahinterliegende Gottesbild: Wenn es einen Gott (=Ingenieur des Lebens) gegeben hätte, dann wäre er sicher nicht so dumm gewesen, das Cytosin zu behalten. Tatsächlich fällt es aber bei genauerer Betrachtung extrem schwer, einen besseren Mechanismus zur Datenspeicherung in Organismen vorzuschlagen.

Man mag sich auch wundern, warum viele Systeme in der Biologie Rubi Goldbergs Maschinen ähneln und manches nur auf „Umwegen“ erreicht wird, statt einen scheinbar direkten Weg zu gehen. Aber wie am Beispiel der Netzwerke gezeigt werden konnte, ist der angeblich zusammengeschusterte modulare Aufbau Voraussetzung für Anpassungsleistungen (Mikroevolution) von Lebewesen. Was also auf den ersten Blick als ein hingeschustertes, vielleicht sogar chaotisch anmutendes Durcheinander aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick oft als sinnvoll und notwendig. Interessant ist, daß bei der Berufung auf einen „Tinkerer“ ein im Grunde theologisches Argument gegen eine Schöpfung benutzt wird, welches sich nicht wirklich nur auf die gewonnenen Daten stützt. Täte man dies, müßte man viel öfter einen Designer annehmen, was die scientific community auf keinen Fall zulassen möchte. Die Folge wäre für die paradigmatische Weltschau des rein diesseitig orientierten Materialismus fatal, denn der Absolutheitsanspruch der Evolution (T. Dobzhansky: „Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution“) müßte fallen.

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Literatur

Alon U (2003)
Biological networks: The tinkerer as an engineer. Science 301, 1866-1867.
Dawkins R (1990)
Der blinde Uhrmacher. München.
Gehring W & Ikeo K (1999)
Pax 6 master in eye morphogenesis and eye evolution. Trends Genet. 15, 371-377.
Jacob F (1977)
Evolution and Tinkering. Science 196, 1161-1166.
Jacob F (2000)
Die Maus, die Fliege und der Mensch. München.
Jacob F (2001)
Complexity and tinkering. Annal. N. Y. Acad. Sci. 929, 71-73.
Lavorgna G, Patthy L & Boncinelli E (2001)
Were protein internal repeats formed by ‘bricolage’? Trends Genet. 17, 120-123.
Lipson H, Pollack JB & Suh NP (2002)
On the origin of modular variation. Evolution 56, 1549-1556.
Oakley TH (2003)
The eye as replicating and diverging, modular developmental unit. Trends Ecol. Evol. 18, 623-627.
Poole A, Penny D & Sjöberg B-M (2001)
Confounded cytosine! Tinkering and the evolution of DNA. Nature Rev. Mol. Cell Biol. 2, 147-151.
Ruvinsky I & Gison-Brown JJ (2000)
Genetic and developmental bases of serial homology in vertebrate limb evolution. Development 127, 5233-5244.

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