Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 12. Jg. Heft 1 - Mai 2005
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Zwischen gigantischen Tausendfüßern
und kleinen Pinselfüßern:
Fossile Lücke von 200 Millionen Jahren

Harald Binder & Manfred Stephan

Studium Integrale Journal
12. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2005
Seite 39 - 40


Aus dem Ober-Karbon und dem Unter-Perm liegen Fossilien von riesigen Gliederfüßern (Arthropoden) mit einer Körperlänge von bis zu 2 m vor (geschätztes Gewicht ca. 12 kg; daneben sind auch fossile Formen im cm-Bereich bekannt). Gliederfüßer-Giganten sind auch sonst aus dem Karbon und Perm bekannt; auch andere Arthropoden erreichten hier enorme Ausmaße: „Ur“-Libellen brachten es auf 70-75 cm Flügelspannweite, „Ur“-Netzflügler immerhin auf ca. 55 cm (Brauckmann 1991, 135f.; Brauckmann & Koch 1994, 53).

Die ersten Riesen-Gliederfüßer wurden bereits vor über 150 Jahren als Arthropleura sp. beschrieben. Obwohl schon damals die Zugehörigkeit zu den Gliederfüßern festgestellt wurde, war seither die genaue taxonomische Stellung auch unter Berücksichtigung neuer Fossilfunde (bisher zehn „Arten“ beschrieben) kontrovers.

Kraus & Brauckmann (2003) sowie Kraus (2004) zeigen in einer Überarbeitung dieser Gruppe, daß Arthropleura zusammen mit den Pinselfüßern (Pselaphognatha) unter den Doppelfüßern (Diplopoda) einzuordnen sind; diese gehören wiederum zu den Tausendfüßern (Myriapoda). Nach Ansicht der Autoren ermöglichen verschiedene Konstruktionselemente im Körperbau einen heute nicht mehr bekannten Riesenwuchs. Die Cuticula (Chitinhülle der Gliederfüßer) scheint sehr dünn gewesen zu sein und leistet damit keinen wesentlichen Beitrag zur Gesamtmasse. Sie könnte dann aber auch weniger als zur Stabilisierung dienendes Außenskelett fungieren (wie der Chitinpanzer mancher Insekten). Das ist bei den heute lebenden verwandten Pinselfüßern ebenso, diese sind allerdings sehr viel kleiner. Deren Körper wird durch einen gegenüber der Umgebung erhöhten Binnendruck der Körperhöhle stabilisiert. Dies erfordert aber entsprechend konstruierte Organe für den Gasaustausch. Kraus & Brauckmann interpretieren besondere Merkmale, die sogenannten K-Platten, als Hinweis auf solche Systeme.

Abb. 1: Fossil von Arthropleura sp. aus dem Oberkarbon von Montceau-les-Mines. (Foto: Otto Kraus. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.)

Interessant ist: Bisher ging man davon aus, die Tiergruppe der Arthropleura sei gegen Ende des Paläozoikums (angegeben mit ca. 250 Millionen Jahren vor heute) ausgestorben. Die heutigen kleinen Pinselfüßer sind erst aus dem Baltischen Bernstein bekannt, der ins Oligozän/Miozän gestellt wird (vor ca. 20-30 Millionen Jahren). Das bedeutet eine Lücke von mehr als 200 Millionen Jahren in der Fossilüberlieferung. Dagegen erscheint z.B. die Überlieferungslücke der berühmten Quastenflosser vergleichsweise kurz. Fossil belegt ist diese Fischgruppe vom Mittel-Devon bis in die mittlere Oberkreide (vgl. Ward 1993, 193.176). Danach fehlen sie im Fossilbefund vollständig; ihre lebenden Nachkommen wurden erst 1938 der Wissenschaft bekannt. Das würde einer Lücke von „nur“ ca. 80-90 Millionen Jahren entsprechen. (Vergleiche dazu die Argumentation mit den geologisch nicht überlieferten Lebensräumen in Stephan 2002.)

In Schichten, die den fossilen Fährten der Riesen-Gliederfüßer benachbart sind, kommen Süßwassermuscheln und Kleinkrebs-Lebensspuren vor. Aus diesen und anderen Befunden wird auf eine semiaquatische Existenz der Arthropleuren geschlossen (feuchter oder nasser Untergrund). Ihre Anatomie deutet darauf hin, daß die Giganten nicht (wie manchmal angenommen) furchterregende, „Ursaurier-jagende Räuber“, sondern vielmehr „sanfte Riesen“ waren. Sie dürften sich (ähnlich wie die heutigen, kleinen Pinselfüßer) von Pflanzensporen ernährt haben, die in den karbonischen Steinkohlewäldern in großen Mengen vorhanden waren. Dieses „feuchte“ Szenario paßt mit der vermuteten Schwimmwaldnatur der Steinkohlewälder gut zusammen; dafür gibt es neben geologischen überzeugende botanische Hinweise (vgl. Junker 2000, 55-68). Fossile Arthropleuren werden praktisch immer als umgelagerte Fragmente gefunden; dabei kann es sich aber auch um Exuvien (Häutungshemden) handeln. Bei der Verschüttung der schwimmfähigen Karbonwälder wurden offenbar die fragmentierten Reste der Riesengliederfüßer mitverschwemmt und eingebettet.

Literatur

Brauckmann C (1991)
Arachniden und Insekten aus denm Namurium von Hagen-Vorhalle. Veröff. Fuhlrott-Museum 1. Wuppertal, 1-275.
Brauckmann C & Koch L (1994)
Spinnentiere und Insekten aus dem Oberkarbon von Hagen-Vorhalle. Fossilien 11, 45-55.
Junker R (2000)
Samenfarne – Bärlappbäume – Schachtelhalme. Pflanzenfossilien des Larbons in evolutionstheoretischer Perspektive. Studium Integrale: Paläontologie. Holgerlingen.
Kraus O (2004)
Riesen-Gliederfüßer des Erdaltertums. Fossile Giganten und ihre heute lebenden Verwandten. Naturwiss. Rdsch. 57, 489-494.
Kraus O & Brauckmann C (2003)
Fossil giants and surviving dwarfs. Arthropleurida and Pselaphognatha (Atelocerata, Diplopoda): characters, phylogenetic relationships and construction. Verh. Naturwiss. Ver. Hamburg 40, 5-50.
Stephan M (2002)
Der Mensch und die geologische Zeittafel. Warum werden Menschenfossilien nur in den obersten geologischen Schichten gefunden? Holzgerlingen.
Ward PD (1993)
Der lange Atem des Nautilus. Warum lebende Fossilien noch leben. Heidelberg etc.

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