Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 9. Jg. Heft 2 - Oktober 2002
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Übergangsform zwischen „Homo“ habilis und Homo erectus?
Neuer Fund aus Dmanisi, Georgen erhitzt die Gemüter

von Sigrid Hartwig-Scherer

Studium Integrale Journal
9. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2002
Seite 88 - 90


Zusammenfassung: In Dmanisi (Georgien) fand man neben den auf 1,75 MrJ datierten Schädeln von Homo erectus/ergaster (vgl. HARTWIG-SCHERER 2002) im gleichen zeitlichen Kontext einen weiteren, erstaunlich kompletten Schädel mit Unterkiefer. Es ist der kleinste und ursprünglichste Hominide, der jemals außerhalb Afrikas gefunden wurde. Er hat sich möglicherweise gemeinsam mit Homo erectus/ergaster, verschiedenen Säugetieren, vor allem Fleischfressern, als ganzes Ökosystem Richtung Norden ausgebreitet. Während die früher gefundenen Schädel Homo erectus/ergaster dem echten Menschen zugeordnet wurden, kann man bei dem Neufund vor allem im Gesicht eine starke Ähnlichkeit mit dem afrikanischen Schädel KMN-ER 1813 feststellen: dieser wird mit „Homo“ habilis in Verbindung gebracht, der vor wenigen Jahren in Australopithecus habilis umbenannt wurde. Das Gehirnvolumen des Neufundes liegt mit nur 600 ccm wesentlich unter dem der anderen Dmanisi-Schädel und innerhalb der Variationsbreite der A. habilis-rudolfensis-Gruppe.

Entgegen dieser klaren Befunde haben die Beschreiber alle Formen aus Dmanisi als eine „primitive Homo erectus-Art“ zusammengestellt: diese sollen als „intermediäre“ Form außerhalb Afrikas zu den späteren Menschen übergeleitet haben. Anscheinend wird dieses Vorgehen von dem Wunsch nach einem „Zwischenglied“ zwischen den Australopithecinen und dem ersten Echten Menschen Homo erectus/ergaster geleitet. Dementsprechend suggeriert ein Kommentar mit der Bezeichnung „die Kleinen Leute“ von Dmanisi (BALTER & GIBBONS 2002) die Vorstellung, daß es sich auch bei der neuen Form um Echte Menschen der Gattung Homo handelt, obwohl die Befunde eher auf Australopithecinen hinweisen.


Der Schädel mit der Katalognummer D2700 wurde kürzlich von einem georgischen Team (VEKUA et al. 2002) beschrieben. Zusammen mit einem assoziierten Unterkiefer (D2735) wurde diese Form im gleichen zeitlichen Horizont gefunden, in dem man einige Jahre zuvor zwei 1,75 MrJ alte menschliche Schädel entdeckt hatte. Diese wurden vor zwei Jahren gemeinsam mit früheren Funden als Homo erectus/ergaster beschrieben (vgl. HARTWIG-SCHERER 2002). Der exzellente Erhaltungszustand ist auf eine schnelle und sanfte Einbettung sehr bald nach dem Ableben der Lebewesen und auf das Fehlen späterer Umlagerung zurückzuführen. Eine Kalkschicht diente als Schutz vor weiterer Beschädigung, daß sogar Ligamente noch sichtbar sind.

Auf den ersten Blick offenbart sich ein grundlegender morphologischer Unterschied zwischen dem neuen Fund und den früher gefunden Schädeln (Abb. 1). Ganz spontan fiel mir eine starke Ähnlichkeit mit dem afrikanischen Schädel KMN-ER 1813 (Abb. 1) auf, vor allem wegen des im Vergleich zu Homo erectus kleinen Gesichts, seinem speziellen Profil, der flach zur Seite ausladenden und am ersten Backenzahn ansetzenden Jochbeinknochen, dem flachen, leicht vorstehenden Gaumen, den fehlenden Überaugenwülsten, den sich nach unten verbreiternden Nasenbeinen, dem flachen Naseneingang und der recht kleinen Gehirnkapsel. Einige Merkmale erinnern an H. erectus-Formen. Tatsächlich werden in der Originalpublikation detaillierte Ähnlichkeiten mit dem Schädel KMN-ER 1813 beschrieben, der in den Formenkreis der Australomorphen gestellt wird und immer wieder mit „Homo“ habilis (heute Australopithecus habilis) in Verbindung gebracht wird. Heute rechnen viele Palaänthropologen habilis nicht mehr zur Gattung Homo (WOOD 1999; vgl. HARTWIG-SCHERER 1999)

Abb. 1: KNM-ER 1813 (links) und der neue kleine Schädel aus Dmanisi (rechts; gezeichet nach MARION BERNHARD): Die Ähnlichkeit deutet in Richtung Australopithecus habilis und weg von Homo erectus.

Es handelt sich um den kleinsten und ursprünglichsten Hominiden, der jemals außerhalb Afrikas gefunden wurde. Friedemann SCHRENK, der als Finder eines A. rudolfensis-ähnlichen Hominiden (SCHRENK 1993) im Hominidenkorridor Malawi die Überzeugung vertritt, daß nicht Homo erectus, sondern „Homo“ habilis bzw. „Homo“ rudolfensis als erster Hominide Afrika verließ, sieht mit diesem Fund seine Hypothese bestätigt (Süddeutsche Zeitung vom 9. 7. 2002): „Die Schädelmerkmale des neuen Fundes zeigen vielmehr frappierende Ähnlichkeit mit Homo habilis und Homo rudolfensis...“ Da seit wenigen Jahren die Formen habilis und rudolfensis aufgrund zahlreicher morphologischer Unstimmigkeiten nicht mehr zur Gattung Homo zählen, sondern zu Australopithecus (WOOD 1999) bzw. Kenyanthropus (LEAKEY et al. 2001), besaßen die Australopithecinen entgegen früher Annahmen ein wesentlich größeres Verbreitungsgebiet als bislang angenommen (s. auch Abb. 2 des nachfolgenden Kurzbeitrags über Sahelanthropus): Sie waren bisher nur von Süd-, Ost- und inzwischen auch Zentralafrika bekannt, weshalb man auch an Afrika als Wiege der Menschheit festhielt.

Trotz der Ähnlichkeit mit Australopithecus habilis und A. rudolfensis stellen die Beschreiber ihren Fund zur gleichen Art wie die beiden anderen Schädel, die vor zwei Jahren vom gleichen Team beschrieben und als Homo erectus klassifiziert wurden (GABUNIA et al. 2000; sieben der insgesamt zwölf Autoren einschließlich der Teamleiter haben sowohl bei der ersten als auch der jetzigen Beschreibung mitgewirkt). Diese Diskrepanz bedarf näherer Betrachtung. Der Drittautor und H. erectus-Spezialist Philip RIGHTMIRE gibt zu, daß der neue Fund wohl als habilis klassifiziert worden wäre, hätte man ihn vor den anderen, als H. erectus eingestuften Schädeln gefunden. So glich man nachträglich die phylogenetische Einstufung der beiden früher gefundenen Schädel der „Primitivität“ des neuen Fundes an und schuf eine „hochvariable Art mit intermediärem Charakter“. Der Originalartikel schließt mit der Bemerkung, daß dieser Fundkomplex „eng mit Homo habilis (sensu stricto) ... verwandt ist“ und daß diese ersten ausgewanderten Hominiden aus Dmanisi „der Evolutionsstufe des Homo habilis entsprechen“. Einer der Hauptautoren meint trotzdem: „Die Dmanisi-Fossilien sind tatsächlich die ersten, die intermediär zwischen H. habilis und H. erectus sind“ (LORDKIPANIDZE in BALTER & GIBBONS 2002). Da die Bezeichnung „intermediär“ in der Paläanthropologie seine nahezu magische Wirkung selten verfehlt, bleibt vorsichtig anzumerken, daß „intermediär“ in diesem Fall eher Wunschdenken als reelles Abbild der Wirklichkeit zu sein scheint.

Das Schädelvolumen von fast 600 ccm entspricht dem von „Homo“ (heute Australopithecus) habilis und liegt deutlich unter dem Gehirnvolumen der beiden früher gefundenen Homo erectus/ergaster-Schädel (knapp 800 ccm) und anderer erectus-Formen.

Die Bezeichnung „intermediär“ für den neuen Fund scheint eher Wunschdenken als reelles Abbild der Wirklichkeit zu sein.

Aufgrund der Ähnlichkeit des neuen Fundes mit Australopithecus habilis wird im Nachhinein die „Fortschrittlichkeit“ der beiden früher gefundenen georgischen Schädel künstlich heruntergespielt. VEKUA und seine Mitarbeiter begründen die unbestreitbar signifikanten morphologischen Unterschiede der beiden Fundkomplexe nur als Folge unterschiedlicher, auch geschlechtsbedingter Körpergröße. Ihrer Ansicht nach spiegle diese Körpergrößenschwankung die zwar große, aber noch im normalen Bereich liegende Variabilität innerhalb einer Population wider. Allerdings steht dieses Argument auf etwas wackeligen Füßen, da der kleine neue Schädel, der nach dem Körpergrößenargument ein weibliches Exemplar darstellen müßte, unter anderem recht große Eckzähne besitzt, was eher für das männliche Geschlecht spricht.

Nicht alle Paläanthropologen teilen die Auffassung, daß es sich bei den Dmanisi-Funden um eine einzige Art handelt. Meine Einschätzung wurde von verschiedenen anderen Paläanthropologen bestärkt: Jeff SCHWARTZ schlägt vor, daß es sich hierbei genau so gut um mindestens zwei Arten handeln könnte und Ian TATTERSALL würde die Formen weder als H. habilis noch als H. erectus klassifizieren: „Dieser Fund unterstreicht die Notwendigkeit, die Diversität der frühen Hominiden ganz neu und grundlegend zu überdenken“ (zitiert in BALTER & GIBBONS 2002). Daß die Komplexität und Diversität mit jedem neuen Fund zunimmt, zeigen die ständig revisionsbedürftigen Stammbäume (oder besser -büsche), wie es auch die Abb. 3 des nachfolgenden Beitrags über Sahelanthropus widerspiegelt (nach WOOD 2002).

Beide Fossilgruppen lebten zur gleichen Zeit in Dmanisi; doch ob sie miteinander oder kurz nacheinander in Georgien ankamen, läßt sich momentan nicht klären. Ganz offensichtlich waren sie jedoch nicht die ersten Geschöpfe, die diese Wanderungsleistung vollbrachten. Mit ihnen wurden Hunde-, Pferde- und Hirschartige gefunden, und der hohe Anteil und die Diversität von Fleischfressern ist auffällig. Wie Richard POTTS feststellt, waren diese Formen möglicherweise „ganz einfach Teil von gesamten Ökosystemen, die sich auch gegen Norden hin bis zum Kaukasus ausgebreitet haben“ (zitiert in BALTER & GIBBONS 2002). Die sogenannte „Wanderleistung“ erscheint uns nur deshalb so bedeutungsschwer, weil die Humanbiologen auf die Herausbildung menschlicher Fertigkeiten fixiert sind, die man in den Vorformen zu suchen gezwungen ist und dort auch zu finden glaubt.

Früher war man der Meinung, daß Hominiden erst ab einer bestimmten Denkleistung und Kulturstufe, d.h. mit einer Gehirngröße größer als 750 ccm solch weite Strecken bewältigen konnten. Der Neu-Fund widerspricht dieser Vorstellung und legt nahe, daß auch kleine Hominiden mit kleinem Gehirn und kurzen Beinen die gleiche Strecke wie Homo erectus hinter sich gebracht haben könnten. Anscheinend boten die damaligen geoklimatischen Bedingungen des Nahen Osten ausreichende Ressourcen, so daß neben Menschen (Gattung Homo) und anderen Säugern auch Hominiden aus dem erweiterten Formenkreis der Australopithecinen überleben konnten.

Trotz aller Streitpunkte besteht zumindest in drei Punkten Einigkeit, nämlich 1. daß es sich beim neuen Dmanisi-Fund um die früheste Hominidenart außerhalb Afrikas handelt, 2. daß er habilis-Fossilien aus dem Formenkreis der Australomorphen ähnelt und 3. daß er trotz relativ kleinem Gehirn und ohne ausgefeilte Steinwerkzeugtechnologie die geographischen und klimatischen Hürden auf dem Weg ins angenehm warme, subtropische Georgien (und möglicherweise darüber hinaus) überwunden hat.


Literatur

BALTER M & GIBBONS A (2002)
Were ‘Little People’ the First to Venture Out of Africa? Science 297, 26-27.
GABUNIA L, VEKUA A, LORDKIPANIDZE D, SWISHER CC, 3rd, FERRING R, JUSTUS A, NIORADZE M, TVALCHRELIDZE M, ANTON SC, BOSINSKI G, JORIS O, LUMLEY MA, MAJSURADZE G & MOUSKHELISHVILI A (2000)
Earliest Pleistocene hominid cranial remains from Dmanisi, Republic of Georgia: taxonomy, geological setting, and age. Science 288, 1019-1025.
HARTWIG-SCHERER S (1999)
„Homo“ habilis ab jetzt kein Mensch mehr. Stud. Int. J. 6, 85-87.
HARTWIG-SCHERER S (2002)
Wurde Europa doch früher besiedelt? Überraschungen aus Ost und West. Stud. Int. J. 9, 11-17.
LEAKEY MG, SPOOR F, BROWN FH, GATHOGO PN, KIARIE C, LEAKEY LN & MCDOUGALL I (2001)
New hominin genus from eastern Africa shows diverse middle Pliocene lineages. Nature 410, 433-440.
SCHRENK F, BROMAGE TG, BETZLER CG, RINGE U & JUWAYEYL YM (1993)
Oldest Homo and Pliocene biogeography of the Malawi Rift. Nature 365, 833-836.
VEKUA A, LORDKIPANIDZE D, RIGHTMIRE GP, AGUSTI J, FERRING R, MAISURADZE G, MOUSKHELISHVILI A, NIORADZE M, DE LEON MP, TAPPEN M, TVALCHRELIDZE M & ZOLLIKOFER C (2002)
A new skull of early Homo from Dmanisi, Georgia. Science 297, 85-89.
WOOD BA & COLLARD M (1999)
The genus Homo. Science 284, 65-71.
WOOD B (2002)
Hominid revelations from Chad. Nature 418, 133-135.

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