Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 7. Jg. Heft 1 - April 2000


Ein seltsamer Daumen und ein sonderbarer Gleitschirm

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
7. Jahrgang / Heft 1 - April 2000
Seite 28 - 29



In der neuesten Ausgabe des renommierten Lehrbuchs über Evolution von Douglas Futuyma (1998) beschäftigt sich der Autor im einleitenden Kapitel mit dem sog. "Design-Argument". Es besagt in Kürze, daß Lebensstrukturen so beschaffen zu sein scheinen, daß sie auf einen Schöpfer als Urheber verweisen. Dieses "alte" Argument hat in den letzten Jahren neue Aufmerksamkeit in der kritischen Diskussion um die Evolutionstheorie auf sich gezogen. Die Tatsache, daß dieses Thema an auffälliger Stelle in einem Lehrbuch angesprochen wird, ist ein deutlicher Beleg dafür. Evolutionstheoretiker versuchen den Spieß dieses Arguments umzudrehen, indem sie auf tatsächliche oder vermeintliche "Design-Fehler" verweisen. So meint Futuyma, daß die Einheitlichkeit des Knochengerüsts der Extremitätenknochen der Landwirbeltiere nicht für Design spreche: "Design does not require that the same bony elements form the frame of the hands of the primates, the digging forelimbs of moles, the wings of bats, birds, and pterosaurs, and the flippers of whales and penguins" (Futuyma 1998, 12). Erstaunlicherweise wird dieser Satz vom Autor nicht begründet. Weiter meint Futuyma, daß die unterschiedliche Konstruktion des Tintenfisch- und Wirbeltier-Linsenauges inkonsistent mit der Annahme eines allmächtigen Schöpfers sei, der optimales Design verwirklichen könne (vgl. dazu den Beitrag von Neuhaus & Ullrich in dieser Ausgabe). Es überrascht, solche Sätze inmitten von Ausführungen über biologische Sachverhalte zu finden, denn es handelt sich offenkundig um theologische Spekulationen über die mutmaßliche Schaffensweise eines "Designers".

Abb. 1: Der Daumen des Panda. An Anziehmuskel, S radiales Sesambein, Ab Abziehmuskel. (Nach Gould 1989)

Abb. 1
Ähnlich hat sich Stephen J. Gould schon vor Jahren geäußert, als er anhand der seltsamen Konstruktion des Panda-Daumens (Abb. 1) ein "Argument aufgrund von Unvollkommenheit" konstruierte. Der Panda-Daumen ist anatomisch gar kein Daumen, sondern aus dem radialen Sesambein der Hand gebildet. Dieser zusätzliche Daumen bildet einen sechsten Finger (einen "Pseudodaumen"), mit dessen Hilfe die Pandas sehr geschickt Früchte bearbeiten können. Warum aber ist der Daumen nicht so konstruiert wie beim Menschen, weshalb ist diese seltsame Konstruktion eines sechsten Fingers verwirklicht? Gould meint, der ursprüngliche Daumen sei durch die vorlaufende Evolution auf eine andere Rolle verpflichtet, aus der er nicht entlassen werden konnte, so daß ein vergrößerter Handwurzelknochen als Ersatz verwendet werden mußte, woraus nach Überzeugung von Gould eine unvollkommene Konstruktion resultiert habe.

Das Unvollkommenheits-Argument versteht sich indirekt als Beleg für Evolution, indem es als Indiz gegen Schöpfung gewertet wird, denn - so wird argumentiert - ein Schöpfer würde keine Unvollkommenheiten in der Natur erschaffen, und als Alternative bleibt nur Evolution. Von dieser Argumentation hat übrigens bereits Charles Darwin Gebrauch gemacht. Da der Daumen des Pandabären sozusagen als Kronzeuge für die Existenz von Unvollkommenheiten in der Schöpfung eingesetzt wird, wird in diesem Zusammenhang gerne vom "Panda-Prinzip" gesprochen. Auch hier ist die Argumentation offenkundig theologischer Natur.

Abb. 2: Schematische Zeichnung des Greifmechanismus der Panda-Hand. I, V Finger; a Finger gestrekt, b,c Einkrümmen der Finger, D Muskelaktion (Pfeile) beim Zangengriff. (Nach Endo et al. 1999)

Abb. 2
Kann Unvollkommenheit nachgewiesen werden? Das Unvollkommenheits-Argument steht und fällt mit dem Nachweis, daß die betrachtete Struktur besser konstruiert werden könnte. Dieser Nachweis aber gestaltet sich äußerst schwierig, wenn er nicht unmöglich ist. Ein japanisches Forscherteam (Endo et al. 1999) hat nun mit modernsten Forschungsmethoden wie Computertomographie und Magnetresonanzverfahren die Panda-Tatze erneut untersucht. Die Forscher kamen zum Schluß, daß das verlängerte Sesambein nicht als zusätzlicher Finger angesehen werden könne, da es nicht unabhängig von den anderen Fingern bewegt werden kann. Vielmehr bildet es mit dem Handwurzelknochen und dem Mittelhandknochen eine Einheit und kann nur zusammen mit diesen bewegt werden. Außerdem muß die Funktionsweise des Pseudodaumens im Zusammenspiel mit einer weiteren anatomischen Besonderheit verstanden werden: "An der Außenkante der Hand liegt ein länglicher, mit der Elle verbundener akzessorischer Handwurzelknochen, dessen Spitze nach hinten weist. Krümmt der Panda nun alle seine fünf Finger seiner Tatze ein, so wird damit auch der Pseudodaumen bewegt. Schließlich liegt er parallel zum akzessorischen Handwurzelknochen. Es entsteht somit eine zangenartige Struktur, die sich mit der Greifhand eines Roboters vergleichen läßt: Die fünf gekrümmten Finger stehen parallel zueinander und finden in dem Pseudodaumen und dem akzessorischen Handwurzelknochen ein Widerlager. Mit diesem Zangengriff kann der Panda mit großer Geschicklichkeit und Genauigkeit zu seiner Lieblingsnahrung greifen" (Bischof 1999 in einer Zusammenfassung der Ergebnisse von Endo et al.; vgl. Abb. 2). Endo et al. (1999) schreiben: "We have shown that the hand of the giant panda has a much more refined grasping mechanism than has been suggested in previous morphological models." Angesichts dieser Ergebnisse und der Tatsache, daß die Pandabären ihre Tatze offenbar sehr gekonnt und zweckmäßig einsetzen, bleibt wenig Raum für den Nachweis einer "Unvollkommenheit". Das "theologisch" begründete "Panda-Prinzip" steht auf schwachen empirischen Füßen.

Abb. 3: Der Gleitflieger Coelurosauravus jaekeli, dessen Gleitmembran durch hohle Knochenstäbe von dermalem (Haut) Ursprung gestützt wurde. (Nach Frey et al. 1997)

Abb. 3
Eine "Extra-Extremität". Eine weitere Voraussetzung, die dem Panda-Prinzip zugrunde liegt, ist im evolutionstheoretischen Kontext ebenfalls fragwürdig, nämlich die Behauptung, es könnten nur vorhandene Strukturen umgebaut werden, so daß später Spuren dieses Umbaus erkennbar sind. Dies zeigt ein zum Gleitflug befähigtes ausgestorbenes Reptil (Coelurosauravus jaekeli), dessen vollständiges Skelett vor ein paar Jahren entdeckt worden ist. Es besaß einen Gleitschirm, dessen Gerüst nicht wie bei anderen zum Gleitflug und aktiven Fliegen befähigten Wirbeltiere die übliche Modifikation des Extremitätenbauplans der Landwirbeltiere aufwies. Das Gerüst bestand auch nicht aus umgebildeten Rippen oder anderen sonst bereits vorhandenen Elementen des Skeletts; auch handelte es sich nicht um ein Duplikat der Extremitäten. Vielmehr stellte der Flügel eine komplette Neukonstruktion dar (Frey et al. 1997; Abb. 3). Die seitlich ansitzende Gleitmembran wurde durch radial angeordnete, stark verlängerte hohle Knochenstäbe von dermalem (Haut) Ursprung gestützt, also nicht durch innere Knochen. Die Stützstäbe waren nicht mit dem Brustkorb verbunden.

Dieser Gleitflieger stellt das Panda-Prinzip in Frage. Interpretiert man diesen Fund im evolutionstheoretischen Kontext, so bedeutet dies, daß eine de novo-Entstehung neuer Strukturen möglich ist und nicht nur auf der Basis des Vorhandenen umgebaut wird. Das Argument, die Evolution konnte nicht anders verfahren, als eine bereits vorhandene Struktur umzubilden (beim Panda-Daumen das Sesambein), erweist sich zumindest als nicht zwingend. Damit fehlt dem Panda-Prinzip eine weitere Voraussetzung, um es als Beleg für das Vorliegen eines Design-Fehlers verwenden zu können.



Literatur

  • Bischof A (1999) Pseudodaumen beim Panda. Nat. Rdsch. 52, 412-413.
  • Endo H, Yamagiwa D, Hayashi Y, Koie H, Yamaya Y & Kimura J (1999) Role of the giant panda's 'pseudo-thumb'. Nature 397, 309-310.
  • Frey E, Suess H-D & Munk W (1997) Gliding mechanism in the late Permian reptile Coelurosauravus. Science 275, 1450-1452.
  • Futuyma D (1998) Evolutionsbiologie. Basel.
  • Gould SJ (1989) Der Daumen des Panda. München.


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