Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 6. Jg. Heft 1 - März 1999


Weshalb ist der Giraffenhals so lang?

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
6. Jahrgang / Heft 1 - März 1999
Seite 39 - 40



Der lange Hals der Giraffe ist das Standardbeispiel, mit dem der Unterschied zwischen dem Lamarckismus (Vererbung erworbener Eigenschaften) und Darwinismus (Überleben des Bestangepaßten) illustriert wird. Nach der verbreiteten Konkurrenzhypothese hat sich der Hals der Giraffen im Zusammenspiel von Mutation und Selektion verlängert und behält seine jetzige Länge bei, weil dies einen Vorteil in der Konkurrenz um Nahrungsressourcen in trockenen Jahren einbringt, wenn das Laubangebot karg ist. Feldbeobachtungen haben diese Hypothese jedoch nicht unterstützt - im Gegenteil: Simmons & Scheepers (1996) berichten, daß Giraffen in der Serengeti in trockenen Jahren fast alle ihre Nahrung von niedrigen Büschen beziehen und ausgerechnet in nassen Jahren auch auf höhere Bäume übergehen. "This behaviour is contrary to the prediction that giraffe should use their feeding height to advantage at times of food scarcity" (Simmons & Scheepers 1996, 771). Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß die Weibchen über 50% der Zeit mit einem horizontal gestreckten Hals fressen und daß sowohl Männchen als auch Weibchen schneller und häufiger mit gebeugtem Hals fressen. Damit paßt die Futter-Konkurrenz-Theorie nicht zu den Feldbeobachtungen. Andere im gleichen Weidegebiet lebende Laubäser zeigen zudem keine Aufteilung unterschiedlicher Stockwerke des Nahrungsangebots.

Doch damit nicht genug. Vergleiche mit dem Okapi zeigen, daß der Giraffenhals überproportional lang im Vergleich zu den Beinen ist - "eine unerwartete und physiologisch kostspielige Methode, Höhe zu erreichen" (Simmons & Scheepers 1996, 771). Die "Kosten" sind ein größeres Herz, ein erheblich höherer Blutdruck und eine Verdickung der Arterienwände. Wie konnte diese Proportion unter diesen Umständen überhaupt entstehen? Trotzdem sind die Giraffen lebenstüchtig. Nach derzeitigem Kenntnisstand reicht hier das bekannte "evolutionäre Handwerkszeug" nicht aus, um diese Konstruktion zu erklären.

Im Sinne der "Biotic Message" nach W. ReMine (1993) könnte man hierin ein "Design-Signal" vermuten: Der Giraffenhals erscheint ausgefallener, als er für das Überleben und Funktionieren erforderlich wäre. Diese Behauptung könnte durch empirische Befunde widerlegt werden, indem die Notwendigkeit der Existenz der Körperproportionen im Rahmen evolutionärer Szenarien und bekannter Variationsmechanismen nachgewiesen oder wenigstens plausibel gemacht werden könnte.

Genau dies versuchen Simmons & Scheepers (1996) mit der Vermutung, daß der überproportional lange Hals im Zusammenhang mit sexueller Selektion entstanden sei. Sie argumentieren, daß die Männchen um die Vorherrschaft, Weibchen zu erobern, in einer einzigartigen Weise kämpfen, nämlich indem sie ihre Gegner mit den bewaffneten Köpfen auf die langen Hälse knüppeln. Männchen mit längeren Hälsen sind im Vorteil und erzielen den größten Erfolg beim Erobern brünstiger Weibchen. Die Hälse und Schädel der Männchen sind größer und mehr bewaffnet als die der Weibchen, die nicht kämpfen, und wachsen mit dem Alter noch weiter. Diese Befunde passen zur Hypothese der sexuellen Selektion.

Ob diese Beobachtungen allerdings ausreichend verständlich machen können, weshalb die Hälse verlängert wurden und beibehalten werden, muß dahingestellt bleiben, solange der mit der Verlängerung verbundene Vorteil nicht gegen die damit einhergehenden Nachteile abgewogen werden kann. Kritisch für die Erklärung durch sexuelle Selektion ist die Tatsache, daß auch die Weibchen überproportional lange Hälse haben. Simmons & Scheepers (1996, 783) räumen diese Schwierigkeit ein und nennen zwei Möglichkeiten, diesen Befund im Rahmen der Hypothese der sexuellen Selektion zu erklären. Erstens könnte es unbekannte früher wirksame Selektionsdrücke gegeben haben. Dies ist allerdings keine wirkliche Erklärung, sondern ein Beispiel der Plastizität der Evolutionslehre (vgl. ReMine 1993). Nicht viel überzeugender wirkt die zweite Spekulation, die Simmons & Scheepers (1996, 783) ansprechen: Die Hälse der Weibchen könnten als neutrale Nebenprodukte einer genetischen Korrelation der beiden Geschlechter entstanden sein. Sie schreiben selber, daß diese Erklärung oft als eine "letzte Rettung" angesehen und als unbefriedigend empfunden wird. Immerhin ist diese Erklärung grundsätzlich testbar, und die Autoren verweisen hier auf einige Beispiele künstlicher Selektion, die vergleichbare Korrelationen zeigen. Es ist auch zu bedenken, daß durch eine gleichmäßige Verlängerung von Hals und Beinen der Rumpf noch höher wäre, was bei der Geburt zu Problemen führen könnte.

In jedem Fall zeigt dieses populäre Beispiel, wie groß der Unterschied zwischen gewohnten, zwar einleuchtend erscheinenden, aber ungeprüften Vorstellungen und den tatsächlichen Befunden sein kann, und wie schwierig es ist, Selektionsdrücke zur Erklärung einer Konstruktion einigermaßen sicher nachzuweisen.



Literatur

  • ReMine WJ (1993) The Biotic Message. St. Paul/Minnesota.
  • Simmons RE &Scheepers L (1996) Winning by a neck: sexual selection in the evolution of giraffe. Am. Nat. 148, 771-786.


zum Seitenanfang

Studium Integrale Journal 6. Jg. Heft 1 - März 1999