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In der Juli-Ausgabe des Journal of Human Evolution veröffentlichten Henry McHenry und Lee Berger (1998) einen Artikel, der einen schwelenden Konflikt neu anfachen wird. Sie beschreiben neue Skelette der geologisch jüngsten grazilen Australopithecinenart A. africanus. Diese zeigen, daß die Art nicht, wie ursprünglich vor 50 Jahren zuerst angenommen und in den Schulbüchern weitverbreitet, den menschlichen Schreitgang aufweist, sondern wesentlich mehr Anpassungen an das Klettern als ihr angenommener, älterer Vorläufer A. afarensis zeigt (Abb. 1). Ähnlich affenähnliche Proportionen waren Anfang der 90er Jahre bei einem geologisch noch später vorkommenden und angeblich dem Menschen wesentlich näherstehenden Hominiden gefunden worden (Hartwig-Scherer & Martin 1991), der in den 60er Jahren von Louis Leakey als Homo habilis in den Stammbaum eingeführt wurde. Er galt als der erste Vertreter der Gattung Homo, da einige seiner Schädelmerkmale menschenähnlich wirken. Inzwischen muß die Zugehörigkeit dieser Form zur Gattung Homo aufgrund der affenähnlichen Skelettmerkmale bezweifelt werden. |
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Seit der umfangreichen Monographie von Robinson (1972) gesellten sich mehr als 40 Langknochenfragmente zu der Art A. africanus, ein Teilskelett (Stw 431) eingeschlossen. Sie erbrachten die Erkenntnis, daß diese Art - ähnlich ihrer angeblichen Nachfolgeart "Homo" habilis - wesentlich affenähnlichere Langknochenproportionen besaß als ihre angenommene Vorläuferart A. afarensis. Je nachdem, welchen Merkmalskomplex man betrachtet, erhält man konträre Stammbäume: Bezieht man sich auf die Schädelmerkmale, so ergeben diese Merkmale folgende evolutive Sequenz: A. ramidus A. anamensis A. afarensis A. africanus H. habilis Berücksichtigt man nur die Langknochenmerkmale und läßt die geologische Abfolge unberücksichtigt, ergäbe sich die genaue Umkehrung (über die Langknochenproportionen von A. ramidus wurden bisher keine Details veröffentlicht): H. habilis A. africanus A. afarensis A. anamensis In einer früheren Arbeit versuchte McHenry noch, den nichtmenschlichen Bewegungsapparat von "H." habilis und A. africanus für die Stammbaumkonstruktion gegenüber den Schädelmerkmalen als nicht maßgeblich darzustellen. Dies gelingt jedoch inzwischen um so weniger, je mehr sich die Hinweise auf solche "nichtkompatiblen" Kombinationen häufen. Unter der Annahme, daß die Australopithecinen die Vorläufer der Gattung Homo waren, müssen angesichts dieser gegenläufigen Trends eine Reihe von ausgeprägten Homoplasien (Konvergenzen) angenommen werden: Entweder evolvierte der Schädel der grazilen Australopithecinen oder das Postcranium der frühen primitiveren Hominiden parallel und unabhängig zur menschlichen Linie. Das Fazit "... the evolution of the human body form is more complicated than previously understood" (McHenry & Berger 1998, 20). Nach der Erörterung dieser beiden einzigen Alternativen (unter der Voraussetzung, daß die Australopithecinen die Vorläufergruppe der Gattung Homo sind), beenden McHenry & Berger ihre Veröffentlichung mit dem fast resigniert klingenden Satz: "Whatever the phylogeny, homoplasy is present." Es scheint, als wären die Merkmale früher Hominiden, aber auch miozäner Menschenaffen und anderer Säuger aus einem Baukasten entnommen und in verschiedenen Kombinationen zusammengefügt. Auf Homoplasie derart komplexer Strukturen, wie sie komplette Schädelkonstruktionen bzw. der Bewegungsapparat darstellen, könnte man nur dann verzichten, wenn man die Australopithecinen als ganzes aus der Vorfahrenschaft des Menschen ausgliedern würde. Diese Lösung ist aber wenig populär, weil man keine anderen Vorfahren kennt, die zur menschlichen Gruppe führen könnten. |
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