Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 5. Jg. Heft 2 - Oktober 1998


Zweifel an Gehirngrößen von Australopithecus und Homo habilis


von Michael Brandt

Studium Integrale Journal
5. Jahrgang / Heft 2 - September 1998
Seite 94 - 95


Die Gehirnevolution ist ein zentrales Thema in der Paläanthropologie. Leider gibt es nur wenige frühe Hominiden, deren Schädelvolumen relativ genau bestimmbar ist. Jeder neue Fund, bei dem dies möglich ist, erfährt deshalb großes Interesse in Fachkreisen.

Bei einem 1989 entdeckten Schädel (Katalognummer Stw 505) aus Sterkfontein/Südafrika, den man vorläufig zu Australopithecus africanus stellt, wurde eine ungewöhnlich hohe endocraniale Kapazität bestimmt. Das eigentlich Überraschende aber war, daß der gemessene Wert mit 515 cm3 deutlich niedriger ausfiel, als die vorher vermutete Kapazität von über 600 cm3. Die Schädelvolumenbestimmung erfolgte mit mehreren Methoden. Ein Verfahren bestand in der Erzeugung eines "virtuellen Schädelinnenausgusses" mit einer Computertomographie in dreidimensionaler Technik und anschließender Volumenmessung (Conroy et al. 1988).

Stw 505 ist wegen seines Schädelvolumens und seines Alters ein bemerkenswerter Fund. Das Schädelvolumen von 515 cm3 liegt 30 cm3 über der bisher höchsten bekannten Schädelkapazität eines Australopithecus africanus-Fundes (Sts 5 mit 485 cm3; die noch höhere Kapazitätsangabe von MLD 1 ist sehr unsicher) und 75 cm3 über dem Durchschnitt (440 cm3) dieser Spezies. Der Fund ist mit datierten 2,6-2,8 Millionen Jahren relativ alt.

Conroy et al. (1998) meinen, daß die Schädelkapazitätsangaben der früher Hominiden überprüfungsbedürftig sind. Sts 71 (A. africanus) haben die Autoren auch gleich neu untersucht. Statt der bisher allgemein akzeptierten 428 cm3 ermittelten sie nur 370 cm3. In einem Kommentar zur Veröffentlichung von Conroy et al. (1998) bestätigt Falk (1998) dieses Ergebnis. Sie schließt sich auch der Vermutung von Conroy et al. (1998) an, nach der die Schädelkapazitätsangaben von einer Anzahl früher Hominiden zu hoch sind. Als Beispiele nennen Conroy et al. (1998) die beiden Homo habilis-Funde OH 24 und KNM-ER 1813, den Australopithecus boisei-Schädel KNM-ER 732 und Falk (1998) AL 162-28 (Australopithecus afarensis). In diesem Zusammenhang überrascht die Erwähnung von KNM-ER 1813, da die Schädelkapazität dieses phylogenetisch äußerst bedeutsamen Fundes mit 510 cm3 bisher als vertrauenswürdig galt (Holloway 1988).

Man darf darauf gespannt sein, welche Auswirkungen die zu erwartenden revidierten frühhominiden Schädelkapazitätswerte auf die Theorien vom Ursprung des Menschen haben.

Mögliche Konsequenzen. In ein evolutionäres Szenario passen Schädelkapazitätswerte, die von Australopithecus über Homo habilis/rudolfensis bis zu Homo ergaster/erectus mit jüngerem Alter stetig steigen.

Im Rahmen der Grundtypenbiologie ist der Mensch (Homo ergaster/erectus und spätere Homo-Spezies) ein eigenständiger Grundtyp. Dieser steht danach in keiner historisch-verwandtschaftlichen Beziehung zu den frühen Hominiden Ardipithecus, Australopithecus, Paranthropus und Homo habilis/rudolfensis, die zu einem Großaffengrundtyp (Australomorphe) gehören könnten.

Sollte sich die Vermutung von Conroy et al. (1998) und Falk (1998) bestätigen, daß zahlreiche frühe Hominidenschädelvolumen zu hoch bestimmt wurden, dann käme dies der Grundtypvorstellung entgegen. Die Australomorphen würden durch eine größere Kluft vom Menschen abgegrenzt sein. Die Variation der Schädelkapazität rezenter Hominoiden (Menschenähnliche) und fossiler Hominiden zeigt Abb. 1.


Abb. 1: Variationsbereich der Schädelkapazität der afrikanischen Großaffen, des rezenten Menschen und fossiler Hominiden (nach Brandt in Vorn., verändert). Zu den robusten Australopithecinen gehören A. aethiopicus, A. boisei und A. robustus. Die Vertrauenswürdigkeit einiger Schädelkapazitäten von Homo habilis ist seit langem umstritten.

Außer der Größe spielt auch das Alter der Schädel für ihre Deutung in Ursprungstheorien eine große Rolle. Das hohe Schädelvolumen des neuen Fundes Stw 505 paßt nicht gut in bisherige Evolutionsvorstellungen, weil es einerseits nur 30 cm3 kleiner, andererseits aber datierte 1,4-1,6 Millionen Jahre älter ist, als der bisher größte Schädel eines unzweifelhaften Australopithecinen (Katalognummer KGA10-525, siehe Suwa et al. 1997).

Die neuen Schädelkapazitätsbestimmungen und die Vermutung, daß eine Anzahl frühhominider Schädelkapazitäten zu groß bestimmt wurde, lassen Revisionen bisheriger Vorstellungen vom Ursprung des Menschen erwarten, die möglicherweise zur Grundtypvorstellung passen.


Literatur

  • Brandt M (in Vorb.) Gehirn - Sprache - Artefakte. Neuhausen-Stuttgart.
  • Conroy GC, Weber GW, Seidler H, Tobias PV, Kane A & Brunsden B (1998) Endocranial capacity in an early hominid cranium from Sterkfontein, South Africa. Science 280, 1730-1731.
  • Falk D (1998) Hominid brain evolution: Looks can be deceiving. Science 280, 1714.
  • Holloway R (1988) Brain. In: Tattersall I, Delson E & Van Couvering J (eds) Encyclopedia of human evolution and prehistory. New York & London, pp 98-105.
  • Suwa G, Asfaw B, Byene Y, White TD, Katoh S, Nagaoka S, Nakaya H, Uzawa K, Renne P & WoldeGabriel G (1997) The first skull of Australopithecus boisei. Nature 389, 489-492.


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