Für Richardson existiert kein besonderes, konserviertes oder phylotypisches Embryonalstadium bei den Wirbeltieren. Das Sanduhrmodell und die damit verknüpften phylogenetischen Ansätze sind empirisch nicht haltbar. Im untersuchten Entwicklungsstadium zeigen die einzelnen Organismen ausgeprägte Unterschiede untereinander z. B. hinsichtlich ihrer Größe (bis zum 10 fachen), ihres gesamten Bauplanes (Zahl der Somiten, Pharyngealbögen bzw. Gliedmaßen) oder in der Anlage bzw. hinsichtlich des Differenzierungsgrades einzelner Organe (z.B. des embryonalen Herzens). Die Variationsbreite der embryonalen Merkmalsmuster ist nicht weniger markant als die Ausprägungen bei den Adultorganismen. Eindrucksvolles Beispiel dafür sind die Pharyngealbögen. Haeckel präsentierte in seiner Abbildung für diese ein identisches Bild in Anzahl und Form bei allen Wirbeltieren, welches der Wirklichkeit nicht im geringsten entspricht (vgl. Abb. 1 mit Abb. 3). Richardson deklassiert deshalb Haeckels Abbildungen (speziell die Embryonen in der obersten Reihe, von Abb. 1), von denen signifikante Einflüsse auf entsprechende Ideen und Hypothesen ausgingen, als stilisierte Abwandlungen eines Säugetierembryos ohne Realitätstreue und wissenschaftlichen Wert.
Dennoch vertritt Richardson eine Verflechtung von Ontogenese und Phylogenese, die allerdings nicht deskriptiv, sondern allein kausal begründet ist. Die evolutive Abwandlung von Merkmalen erfolgte seiner Ansicht nach hauptsächlich durch erblich fixierte Änderungen bereits existierender ontogenetischer Prozesse. Aus der beschriebenen Vielfalt bei Wirbeltierembryonen schließt der Autor auf Evolutionsmechanismen, die zur Beeinflussung der Größe und des Körperbauplanes von Embryonen oder zum Wechsel in der Anzahl sich wiederholender Baumerkmale (z.B. Somiten, Pharyngealbögen) sowie zur Verschiebung von Wachstumsmustern (Allometrie) und / oder des zeitlichen Entwicklungsverlaufes (Heterochronie) einzelner Organe geführt haben müssen. Alle embryonalen Stadien sind in gleicher Weise anfällig für diese Veränderungen und nehmen deshalb eine Schlüsselrolle für makroevolutive Ereignisse ein. Richardson warnt davor, auf der immer noch dünnen Grundlage aktuellen ontogenetischen Wissens (das zumeist von wenigen Labortieren stammt) voreilige Verallgemeinerungen zu postulieren, wie es bei Haeckels Thesen und den daraus abgeleiteten Modifikationen geschah.
Diskussion.
Richardson gelingt es eindrucksvoll - und darin liegt der große Wert seiner Arbeit -, durch die Präsentation und die vergleichende Darstellung älterer und aktueller ontogenetischer Daten das "hourglass model" und das damit verknüpfte Postulat von der Existenz eines konservierten, phylotypischen Stadiums bei den Wirbeltieren zu widerlegen. Seine Schlußfolgerungen sind allerdings in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Biogenetischen Grundgesetz nicht neu (vgl. z.B. Peters 1980, Ullrich 1997). Die bis dahin vorliegenden Beschreibungen von Ontogenesen einzelner Organismen (z.B. beim Menschen durch Blechschmidt (1961, 1973) und O'Rahilly (1987)) haben punktuell dieses Ergebnis bereits vorweggenommen. Vergleichende Untersuchungen deutscher Embryologen zum Ausgang des 19. Jahrhunderts (z.B. Mehnert 1896: Die individuelle Variation des Wirbelthierembryo) führten auf der Grundlage des damals vorhandenen Wissens zu einer analogen Ablehnung des simplen methodischen Ansatzes Haeckels. Haeckels Abbildungen sind seit ihrer Veröffentlichung wiederholt kritisiert und von Fachleuten z.T. als Fälschungen oder als oberflächliche Schematisierungen charakterisiert worden (Gursch 1981). Daß sie dennoch immer wieder auftauchen, ist ein Phänomen, welches in einem engen Zusammenhang mit der breiten und gewöhnlich unkritischen Akzeptanz der Evolutionslehre stehen dürfte.
Die Annahme, über Abwandlungen ontogenetischer Prozesse einen Erklärungsansatz für makroevolutive Änderungen zu liefern, stellt in der Vielfalt bisher diskutierter phylogenetischer Mechanismen prinzipiell nichts Neues dar (z.B. Chambers 1844, Haeckel 1866, Naef 1917, Sewertzoff 1931, De Beer 1930, 1958; Gould 1977). Während die früheren Hypothesen von einer geringeren Anfälligkeit junger embryonaler Stadien (besonders des phylotypischen Stadiums) gegenüber evolutiven Veränderungen sprachen, sieht Richardson keinen Grund für diese Einschränkung wegen der nachgewiesenen Merkmalsdiversifikation in allen embryonalen Phasen.
Schlußfolgerung.
Die von Richardson präsentierten deskriptiven Daten sowie die in seiner Arbeit nirgends angesprochenen Probleme der Homologisierung von embryonalen und adulten Merkmalen (Ullrich 1994), belegen erneut die Fragwürdigkeit jeder Art einer spekulativen Parallelisierung bzw. Gleichsetzung des embryonalen Formenwandels mit den hypothetischen phylogenetischen Reihen der Wirbeltiere. Ebenso liefern die bisher bekannten ontogenetischen Prinzipien der Struktur- und Funktionsentwicklung kein tragendes Fundament für ein kausales Verständnis makroevolutiver Prozesse. Die vorgeschlagenen Evolutionsmechanismen (Heterochronie, Allometrie u.a.m.) sind lediglich deskriptive Umschreibungen der aktuell beobachteten Merkmalsvielfalt, für deren Entstehen jedoch plausible genetische und epigenetische Erklärungen auch von Richardson nicht genannt werden können.
Entgegen aller bisherigen Hoffnungen spricht die Komplexität und Individualität der gesamten Ontogenese bei Wirbeltieren immer deutlicher gegen ihre konstruktive Verwertbarkeit in phylogenetischen Modellen.