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Magnetfeld-basiertes GPS im Tierreich

von Harald Binder

Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2017
Seite 104 - 107


Zusammenfassung: Das satellitengestützte Global Positioning System (GPS) erweist sich in unserer mobilen Gesellschaft als große Hilfe. Aus dem Tierreich sind ausgedehnte Wanderungen sowohl zu Wasser als auch auf dem Luftwege bekannt. Bereits seit Langem gibt es Hinweise darauf, dass Tiere sich das Erdmagnetfeld für ihre Orientierung zunutze machen. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind aber nach wie vor ein hochinteressantes Forschungsfeld, auf dem es viel Überraschendes zu entdecken gibt.




Einführung

Die Erde ist von einem Magnetfeld umgeben. Für dessen Ursachen gibt es zwar Modelle, doch unsere Erkenntnis über sein Zustandekommen ist nach wie vor lückenhaft. Schon im schulischen Physikunterricht begegnen Lernende elementaren Zusammenhängen zwischen bewegter elektrischer Ladung und dem dadurch verursachten Magnetfeld und deren gegenseitiger Wechselwirkung. Das Magnetfeld nutzen wir z. B., wenn wir geographische Karten mit Hilfe eines Kompasses nach Norden ausrichten und uns damit orientieren.

Es gibt viele Hinweise darauf, dass Organismen Richtung und Intensität von magnetischen Feldlinien wahrnehmen können. Die entsprechende Sinnesleistung ist im Tierreich weit verbreitet: Meeresschildkröten, Brieftauben, Fledermäuse, Molche, Hummer, Fliegen, Küken, Bienen oder Weichtiere sind nur eine kleine Auswahl (vgl. Abb. 1). Dabei scheint diese Sinnesleistung nicht notwendigerweise an weite Wanderungen der Lebewesen gebunden zu sein. So zeigen Weichtiere einen Magnetsinn und unternehmen – wie auch viele andere magnetisch sensitive Organismen – keine ausgedehnten Wanderungen. Erste empirische Laboruntersuchungen zur Wahrnehmung und Nutzung magnetischer Felder hat der Ornithologe Wiltschko an der Universität Frankfurt mit Rotkehlchen (Erithacus rubecula) durchgeführt (Wiltschko & Wiltschko 1972).

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Magnetfelder und Organismen

Magnetische Felder durchdringen biologisches Gewebe; diese Tatsache erschwert die Lokalisierung und Analyse potenzieller Sensoren bzw. Wahrnehmungsorgane; sie könnten überall in einem Lebewesen sein und sich über große Bereiche erstrecken. Viele Untersuchungen haben sich bisher auf das Verhalten von Tieren z. B. in einem manipulierten Magnetfeld bezogen. Dadurch konnte die Sinnesleistung zur Wahrnehmung und Nutzung magnetischer Felder belegt werden, jedoch ohne diese im Organismus lokalisieren oder einen Mechanismus nachweisen zu können. Manche Tiere wie z. B. Meeresschildkröten und Hummer können aufgrund der magnetischen Feldlinien eine Art geographische Karte zu ihrer Orientierung generieren und nicht nur die Richtung zu den magnetischen Polen feststellen. Sie haben in gewissem Sinne ein Äquivalent zum GPS (Global Positioning System), zwar mit vergleichsweise geringer Auflösung, aber dafür ist es nicht auf den Empfang von Satellitensignalen angewiesen, sondern basiert auf dem Erdmagnetfeld (Lohmann 2010).

Abb. 1: Zahlreiche Tiere verschiedenster systematischer Zugehörigkeit besitzen einen Magnetsinn und können sich anhand des Erdmagnetfeldes orientieren. Das Bild zeigt vier Beispiele: Europäischer Hummer (Homarus gammarus) (Bild gemeinfrei), Brieftaube (Columba livia f. domestica) (CC BY-SA 2.5), Glasaale (Jugendstadium des Europäischen Aals; Angullia angullia) (CC BY-SA 3.0), Magnetosomen von Magnetbakterien (aus Von Dobeneck et al. 1987).
Der Magnetsinn ist im Tierreich weit verbreitet.

Grundsätzlich werden drei verschiedene Mechanismen zur Wahrnehmung von magnetischen Feldern diskutiert:

• elektromagnetische Induktion: Meerestiere in leitendem Medium (Meerwasser) könnten mit elektrosensitiven Organen Veränderungen des Magnetfeldes detektieren.

• Magnetitkristalle (Fe3O4; ferromagnetisch) können, wenn sie mit entsprechenden neuronalen Schnittstellen (z. B. mit Ionenkanälen) verknüpft sind, sich ändernde Magnetfelder dem Organismus anzeigen.

• In Molekülen, die ein ungepaartes Elektron aufweisen (Radikale), wird die Präzession dieses Elektrons von der Summe der in seiner Umgebung wirkenden Magnetfelder beeinflusst. Unter bestimmten Umständen könnten also chemische Reaktionen, bei denen ein Elektronentransfer erfolgt, durch die Einwirkung von einem Magnetfeld beeinflusst und verändert werden. Dieser Mechanismus wird auch als chemische Magnetorezeption bezeichnet.

Für die zuletzt beschriebenen chemischen Magnetorezeptoren müssen zunächst Radikale erzeugt werden, da typischerweise stabile Moleküle nur gepaarte Elektronen aufweisen. Um Moleküle in Radikale zu überführen, müssen diese angeregt, d. h. es muss Energie zugeführt werden. Dadurch werden sie in einen angeregten Zustand überführt, in dem ungepaarte Elektronen auftreten. Die Anregungsenergie könnte z. B. durch Licht bereitgestellt werden, das durch sogenannte Cryptochrome1 aufgefangen wird. Dadurch kann die Energie verfügbar gemacht werden.

Chinesische Wissenschaftler um Can Xie legten 2016 empirische Belege für einen postulierten magnetischen Proteinkomplex vor (Qin et al. 2016). Sie hatten aufgrund der Erkenntnis, dass die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) bei Abwesenheit von Cryptochromen die Fähigkeit verliert, auf Magnetfeldänderungen zu reagieren, dessen notwendigen Beitrag zur Magnetorezeption gefolgert. Sie postulierten einen Proteinkomplex, in dem Cryptochrome und ein Eisen- (Fe-) oder Eisen-Schwefel (Fe-S)-Protein kombiniert sein sollten. Sie suchten im bekannten Drosophila-Genom nach Fe-Proteinen und fanden 199 Gene von Fe-Proteinen, von denen 132 stark im Kopf der Fruchtfliege exprimiert, d. h. in Proteine übersetzt und genutzt wurden. Aufgrund der Berücksichtigung weiterer Literaturdaten reduzierten die Autoren schließlich die Zahl der Eisenproteine auf 14, die sie weiter untersuchten. Schließlich konnten Qin et al. ein Fe-Protein identifizieren, das gemeinsam mit dem Cryptochrom exprimiert wurde. Diese wiesen eine stabile Wechselwirkung auf. Die Forscher konnten diesen Proteinkomplex charakterisieren und zeigen, dass er tatsächlich auf Änderungen in einem Magnetfeld reagiert. Durch vergleichende Genomstudien konnten die Autoren auch zeigen, dass sowohl die Gene für Cryptochrome als auch die Gene für das Fe-Protein im Erbgut von Insekten bis Säugetieren hoch konserviert, d. h. sehr ähnlich sind. Damit liegt ein sehr detailliert beschriebenes Modell für ein molekulares Magnetorezeptorsystem vor, das bisher allerdings noch nicht konkret in Lebewesen nachgewiesen ist. Die Arbeit von Qin et al. (2016) könnte sich aber in zukünftigen Untersuchungen als ein erfolgreicher Schlüssel zur Aufklärung der Magnetorezeption erweisen (Lohmann 2016).

Dirk Schüler hat mit seiner Arbeitsgruppe lineare Anordnungen von Magnetosomen in Bakterien identifiziert und beschrieben. Dabei handelt es sich um Magnetitkristalle, die Bakterien in ihren Zellen in Vesikeln gezielt bilden und in einer Art Kette aufreihen; diese bewirken, dass sich die länglichen Bakterien wie Kompassnadeln entsprechend der Magnetfeldlinien ausrichten (Uebe & Schüler 2016; Binder 2006).

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Komplexe Kopplungen verschiedener Sinnesleistungen

Die Magnetorezeption in Glasaalen (Abb. 1) ist nach einer Studie von Cresci et al. (2017) an den Gezeitenzyklus gekoppelt. Glasaale stellen das Jugendstadium von Aalen dar; in der genannten Studie wurde der Europäische Aal (Angullia angullia) untersucht. Dieser legt eine der größten bekannten Wanderstrecken im Tierreich zurück. Er schlüpft in der Sargassosee (Atlantik, östlich von Florida) und wandert in den Meeresströmungen – aber durchaus auch aktiv schwimmend – als sogenannte Weidenblattlarve2 an die europäischen Küsten. Dort angekommen vollzieht sich die Wandlung zu Glasaalen und als solche wandern sie im Süßwasser flussaufwärts in die Binnengewässer, die dann für mehrere Jahre ihren Lebensraum bilden. Zum Ablaichen wandern die Tiere durch die Flüsse wieder ins Meer und begeben sich in die Sargassosee. Bei seinen ausgedehnten Wanderungen nutzt Angullia angullia das Erdmagnetfeld zur Orientierung. Cresci und seine Kollegen untersuchten nun Glasaale unter Laborbedingungen und mit speziellen Vorrichtungen im freien Meer und fanden, dass die Richtungsorientierung mit dem Tidenzyklus korreliert war. Damit bestätigte sich in dieser aktuellen Studie die bereits vermutete Orientierung der Aale auf ihren ausgedehnten Wanderungen anhand des Magnetfeldes; die hierbei gefundene und erstmals beschriebene Kopplung mit anderen Rhythmen (hier dem Gezeitenzyklus) ist bezüglich des zugrundeliegenden Mechanismus eine Herausforderung, die in weiteren Untersuchungen angegangen werden soll.

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Suche nach möglichen Anfängen

Ein internationales Team um Wei Lin hat Biomineralisation in Mikroorganismen mit Hilfe genetischer Studien untersucht (Lin et al. 2017). Dabei haben sie Vertreter der Nitrospirae untersucht, die von Magnetfeldern beeinflussbar sind. Sie bilden Magnetitkristalle in sogenannten Magnetosomen, die in der Bakterienzelle zu linearen Ketten angeordnet werden. Die Gruppen von Genen (gene cluster), die für die Biomineralisation in den Magnetosomen sowie für deren kettenförmige Anordnung zuständig sind, sind nach Ansicht der Autoren vor der phylogenetischen Aufspaltung zwischen Nitrospirae und Proteobakterien im Archaikum entstanden. Diese evolutionstheoretische Interpretation der Daten auf der Basis vergleichender genetischer Studien führt die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass die Magnetotaxis, also die Möglichkeit, sich am Magnetfeld zu orientieren, durch Umweltbedingungen sehr früh entstanden ist und das Erdmagnetfeld sehr früh in der Erdgeschichte entsprechend stark genug gewesen sein muss. Aufgrund ihrer phylogenetischen Interpretation der genetischen Daten datieren Lin et al. die ursprüngliche Entstehung der Ketten von Magnetosomen vor der Trennung zwischen Nitrospirae und Proteobakterien, die sie im Archaikum (eine Unterabteilung, Äon, des Präkambriums; 4-2,5 Milliarden radiometrische Jahre) ansetzen. Diese Interpretationen haben Wang & Chen (2017) kritisiert, indem sie andere Interpretationen der genetischen Daten anführen. Der Ausgang der laufenden Diskussion ist derzeit noch nicht absehbar (Lin 2017a).

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Diskussion
Bereits die Bildung der Magnetitkristalle in Mikroorganismen ist ein hochkomplexer, fein abgestimmter und austarierter Prozess.

Diese aktuellen Beispiele zu dem auffälligen und anspruchsvollen Phänomen der Orientierung am Erdmagnetfeld zeigen faszinierende Fähigkeiten von Organismen, die vom einzelligen Bakterium bis zu Säugetieren reichen und die bezüglich des zugrundliegenden Mechanismus derzeit noch wenig verstanden sind. Dennoch bringen viele Autoren in ihren Arbeiten zum Ausdruck, dass man das erhoffte zukünftige Verständnis der Magnetorezeption auch zur Entwicklung entsprechender technischer Produkte nutzen könnte.

Solche Systemeigenschaften, wie sie beim Magnetsinn verwirklicht sind, erwarten wir von höchstentwickelter Technologie.

Beim Versuch, das Phänomen der Magnetorezeption besser zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass bereits die Biomineralisation, die Bildung der Magnetitkristalle in Mikroorganismen, ein hochkomplexer, fein abgestimmter und austarierter Prozess ist. Die lineare Anordnung ist erforderlich, wenn eine Ausrichtung im Erdmagnetfeld erfolgen soll. Die entsprechenden Bakterien werden dann passiv entsprechend der magnetischen Felder ausgerichtet. Wenn dieser oder ein anderer Mechanismus der Sensibilität für magnetische Kräfte für eine Sinnesleistung der Wahrnehmung, Verarbeitung und der Nutzung in einem entsprechenden Steuerungssystem integriert ist, dann ist dazu noch eine Vielzahl an neuronalen Leistungen erforderlich. Diese müssen, damit die Magnetorezeption genutzt und für Magnetotaxis angewendet werden kann, zur Verfügung stehen. Wir müssen noch viele Details genauer untersuchen, um die im Tierreich etablierten GPS-Systeme besser zu verstehen und für technische Anwendungen nutzen zu können.

Die aktuellen fragmentarischen Kenntnisse zur Magnetorezeption erschweren (evolutions-) theoretische Erklärungsversuche für ihre Entstehung. Aber das, was wir von der Sinnesleistung zur Wahrnehmung des Magnetfeldes bei Tieren wissen, lässt uns staunen über Systeme, die in Bezug auf ihre Sensibilität, die Verarbeitung der Reize und des Repertoires von Verhaltensweisen sehr ausgeklügelt und fein abgestimmt erscheinen. Das sind Systemeigenschaften, die wir von höchstentwickelter Technologie erwarten. Insofern ist es naheliegend, auch bei diesem Phänomen nach der Quelle und Herkunft der vorgefundenen Kreativität zu fragen.

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Anmerkungen

1 Cryptochrome aus (gr.) cryptos: verborgen und chroma: Farbe; Flavoproteine, die blaues Licht absorbieren können.

2 Die Weidenblattlarve des Europäischen Aals wurde ursprünglich als eigene Gattung Leptocephalus beschrieben.

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Literatur

Binder H (2006)
Bakterien als erstaunliche Kompassnadeln. Stud. Integr. J. 13, 96-97.
Cresci A, Paris CB, Durfi CMF, Shema S, Bjelland RM, Skiftesvik AB & Browman HI (2017)
Glass eels (Anguilla anguilla) have a magnetic compass linked to the tidal cycle. Sci. Adv. 3, e1602007.
Dobeneck T von, Peterson N & Vali H (1987)
Bakterielle Magnetofossilien. Geowiss. in uns. Zeit 5, 27-35.
Lin W, Paterson GA, Zhu Q, Wang Y, Kopylova E, Li Y, Knight R, Bazylinski DA, Zhu R, Kirschvink JL & Pan Y (2017)
Origin of microbial biomineralization and magnetotaxis during the Archean. Proc. Nat. Acad. Sci. USA 114, 2171-2176.
Lin W, Paterson GA, Zhu Q, Wang Y, Kopylova E, Li Y, Knight R, Bazylinski DA, Zhu R, Kirschvink JL & Pan Y (2017a)
An ancient origin of magnetotactic bacteria, Proc. Nat. Acad. Sci. doi: 10.1073/pnas.1707301114.
Lohmann KJ (2010)
Magnetic-field perception. Nature 464, 1140-1142.
Lohmann KJ (2016)
A candidate magnetoreceptor. Nature Materials 15, 136-138.
Qin S, Yin H, Yang C, Dou Y, Liu Z, Zhang P, Yu H, Huang Y, Feng J, Hao J, Deng L, Yan X, Dong X, Zhao Z, Jiang T, Wang H-W, Luo S-J & Xie C (2016)
A magnetic protein biocompass. Nat. Mat. 15, 217-226.
Uebe R & Schüler D (2016)
Magnetosome biogenesis in magnetotactic bacteria. Nature Reviews Microbiol. 14, 621-637.
Wang S & Chen Y (2017)
Origin of magnetotaxis: vertical inheritance or horizontal transfer? Proc. Natl. Acad. Sci USA doi: 10.1073/pnas.1706937114.
Wiltschko W & Wiltschko R (1972)
Magnetic compass of European robins. Science 176, 62-64.


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