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Kurzflügler als „Ameisenkäfer“ – eine erstaunliche Konvergenz

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2017
Seite 42 - 44


Zusammenfassung: Mindestens 12 Mal unabhängig ist eine ausgefeilte Strategie mancher Kurzflügler-Käfer entstanden. Diese Käfer sehen aus wie Ameisen und riechen und verhalten sich wie Ameisen, um unerkannt in Nestern von Wanderameisen auf Beutezug gehen zu können. Da „Design“ als Erklärungsform aufgrund weltanschaulicher Vorentscheidungen ausgeschlossen wird, gerät man bei evolutionären Erklärungsversuchen in Zirkelschlüsse.




Konvergenz – Überraschung oder Selbstverständlichkeit?

Ist es eine Überraschung, dass Merkmale oder Fähigkeiten von Lebewesen mehrfach unabhängig – konvergent – entstehen? Aus einer Designer-Perspektive ist ein zahlreiches Auftreten von Konvergenzen durchaus zu erwarten. Denn ein Designer kann planen, die Zukunft gedanklich vorwegnehmen und entsprechende Schritte einleiten, um ein Ziel zu erreichen. Es ist nicht überraschend, wenn er sich dabei öfter ähnlicher Mittel bedient.

Natürliche Selektion ist genauso zukunftsblind wie die Mutationen, die ihr das Rohmaterial liefern.

Natürliche Selektion kann das alles nicht, denn sie ist genauso zukunftsblind wie die Mutationen, die ihr das Rohmaterial liefern. Daher haben Evolutionstheoretiker, für die das Wechselspiel von Mutation und Selektion der hauptsächliche Motor des Artenwandels ist, allen Grund sich zu wundern, wenn Konvergenzen auftreten, besonders wenn es sich um Komplexmerkmale handelt und wenn sie sich häufen.

Und sie wundern sich tatsächlich häufig. Denn wenn man zwei Mal oder gar mehrfach denselben Punkt erreicht, ohne ihn je angesteuert zu haben, stellt sich die Frage, ob es doch eine unerkannte Strategie oder Steuerung gibt. Evolutionstheoretiker verweisen hierzu bei Konvergenzen auf gleiche Selektionsdrücke, Präadaptionen (Voranpassungen) oder auf konstruktive Zwänge. Damit ist gemeint, dass evolutive Veränderungen immer an den bereits vorhandenen Konstruktionen ansetzen müssen und daher nur umbauen können. Die Vorkonstruktionen erlauben „Umbauten“ nur in bestimmte Richtungen – setzen also Konstruktionszwänge.

Abb. 1: A Frei lebende Kurzflügler-Arten mit „normaler“ Anatomie. B „Ameisenkäfer“-Arten, die sozialparastitisch leben (wie im Text beschrieben). C-E Parasitisch lebende Arten mit den Wirtsameisen: Ecitophya mit dem Wirt Eciton (aus Peru), Aenictoteras mit dem Wirt Aenictus (aus Malaysia) und Beyeria mit dem Wirt Neivamyrmex (aus Ecuador), von links. (Aus Maruyama & Parker 2016, mit freundlicher Genehmigung)
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Als Ameise getarnt auf Beutezug

Alle drei Faktoren – Selektionsdrücke, Präadaptionen und Konstruktionszwänge – können aber nicht als Ursachen für Veränderungen gelten, sondern nur als Begleiterscheinungen. In vielen Fällen ist nicht einmal klar, warum sie als Rahmenbedingungen eine kanalisierende Wirkung haben sollen. Das trifft insbesondere bei Verhaltenskonvergenzen zu. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel einer Konvergenz eines ausgefallenen Verhaltens untersuchten Maruyama & Parker (2017) bei parasitisch lebenden kleinen Käfern (vgl. die Zusammenfassung bei Pennisi 2016). Mindestens 12 Mal unabhängig sollen Kurzflügler-Käfer aus der Unterfamilie der Aleocharinae die Fähigkeit erworben haben, in Nester von Wanderameisen eindringen und dort auf Beutezug gehen zu können; dabei vergreifen sie sich auch an der Brut der Ameisen. Das hört sich auf den ersten Blick vielleicht einfacher an, als es ist. Doch um gegen Wanderameisen ankommen zu können, muss man sich einiges einfallen lassen. Nicht umsonst werden diese Ameisen auch als Heeresameisen bezeichnet (engl. „army ants“). Denn sie sind darauf spezialisiert, in ganzen Gruppen auszuschwärmen und auch Eindringlinge zu attackieren.

Die Kurzflügler haben den „Käfer-Look“ gegen ein ameisenartiges Aussehen getauscht.

Um hier überhaupt eine Chance zu haben, in die Nester zu gelangen und dort eine Zeitlang verbleiben zu können, müssen ungebetene Besucher sich tarnen. Den Kurzflüglern gelingt dies dadurch, dass sie den „Käfer-Look“ gegen ein ameisenartiges Aussehen getauscht haben: Sie besitzen eine verengte Taille, verlängerte Beine, Antennen mit ameisenartigen Ellenbogengelenken und andere Besonderheiten im Körperbau. Aber das genügt nicht: Die flohgroßen Käfer müssen auch durch ihr Verhalten – z. B. einen ameisenartigen Gang – und durch ihren Geruch vortäuschen, dass sie Artgenossen der Ameisen seien. Damit gelingt es ihnen, ungestört ihre Raubzüge in den Ameisennestern durchzuführen. Als Präadaption dafür betrachten die Forscher den Besitz einer Drüse am Ende des Hinterleibs, durch die unangenehm riechende Stoffe gegen Angreifer abgegeben werden können. Doch einige der parasitisch lebenden Käfer besitzen neue Drüsen und neue Funktionen, was so wenig wie die veränderte Morphologie und das veränderte Verhalten als Folge einer Präadaption gewertet werden kann.

In jahrelanger mühevoller Forschungsarbeit gelang es Maruyama & Parker (2017), eine größere Anzahl verschiedener Arten dieser sozialparasitisch lebenden Käfer und ihrer nichtparasitischen Verwandten zu sammeln und genetisch zu untersuchen. Dabei fanden sie das höchst erstaunliche Ergebnis, dass die „Ameisenkäfer“-Arten so unsystematisch vorkommen, dass ihr Aussehen und Verhalten mindestens 12 Mal unabhängig entstanden sein muss, wahrscheinlich noch sehr viel öfter. Dabei ist jede unabhängige „Ameisenkäfer“-Linie auf eine bestimmte geographische Region beschränkt und auf eine bestimmte Wanderameisen-Art spezialisiert.

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Zukunftsblind zum selben „Ziel“

Man könnte nun annehmen, dass der gemeinsame Vorfahr vor noch nicht allzu langer Zeit gelebt hat und dass aufgrund der noch nahen genetischen Verwandtschaft ein gemeinsames Potenzial zum „Ameisen-Look“ in diesem Vorfahren vorhanden war und in verschiedenen Linien abgerufen werden konnte. Doch die genetischen Daten weisen unter evolutionstheoretischen Voraussetzungen darauf hin, dass der gemeinsame Vorfahr bereits vor 105 Millionen Jahren gelebt hat. Außerdem habe sich das außergewöhnliche Aussehen und Verhalten der Käfer erst sehr spät – Dutzende von Millionen Jahren nach der Aufspaltung in die verschiedenen Linien – entwickelt und wurde somit nicht auf der Basis eines gemeinsamen genetischen Potenzials abgerufen. Evolutionstheoretisch muss man daher annehmen, dass die Nachahmung im Bau und Verhalten nicht nur jeweils unabhängig ausgeprägt wurde, sondern im Wesentlichen vielfach unabhängig ganz neu entstand.

Zeigt sich hier die „Virtuosität der Evolution“ und starrt einem „die Kraft der Evolution – der natürlichen Selektion“ in die Augen?

Dass dieser Befund sehr unerwartet ist, geht aus den Worten von Pennisi (2016) hervor (in Übersetzung): „Man mag denken, dass die Anpassungen dieser Kurzflügler, wie sie nun bekannt sind, eine unwahrscheinliche Meisterleistung der Evolution bedeuten, die niemals wiederholt wurde. Doch damit würde man falsch liegen, …“ (Hervorhebung nicht im Original). Die Überraschung ist verständlich, da Evolution wie erwähnt ein zukunftsblinder Prozess ist. Daher kann man festhalten: Das Auftreten komplexer Konvergenzen widerspricht einer Entstehung auf natürlich-evolutivem Wege.

Doch Maruyama & Parker (2017) drehen den Spieß um: Aus der vielfachen Konvergenz folgern sie kurzerhand, es gebe in der Kurzflügler-Linie der Aleocharinae eine inhärente Fähigkeit zum Erwerb des ameisenartigen Körperbaus und Verhaltens. Daten zum Beleg dafür legen sie allerdings nicht vor, vielmehr ist die stillschweigende Voraussetzung von Evolution leitend für ihre Argumentation. Denn nur wenn man Evolution voraussetzt, kann man die Konvergenzen nachträglich als „vorhersehbar“ behaupten. Doch wären diese Konvergenzen keinesfalls vorhergesagt worden, wenn man sie nicht kennen würde! Die Vorhersage war eine andere: Wenn überhaupt, kann sich ein solches System nur einmal evolutiv herausbilden (s. o. g. Zitat von Pennisi).

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Zirkelschlüsse statt Ergebnisoffenheit

Dass hier (wie allgemein auch sonst) nur einer von zwei grundsätzlich möglichen Deutungsansätzen verfolgt wird – nämlich der naturalistische –, wird auch durch Äußerungen zweier Wissenschaftler unterstrichen, die Pennisi am Schluss der Zusammenfassung zitiert. Diese Forscher legen – ohne weitere Begründung – das kreative Potenzial, das sich in der Flexibilität der Gestalt und des Verhaltens der Käfer zeigt, in die Evolution: Es zeige sich die „Virtuosität der Evolution“ einmal mehr (Eldredge) und „man spürt, wie einem die Kraft der Evolution – der natürlichen Selektion – in deine Augen starrt“ (Kronauer). Selektion ist zwar ein Thema der Arbeit von Maruyama & Parker (2017), aber ohne dass auch nur ansatzweise erklärt wird, wie Selektion im Einzelnen zur Herausbildung der Ameisenkäfer beigetragen haben soll. Die Charakterisierungen von Eldredge und Kronauer sind Glaubensbekenntnisse über die Kraft natürlicher Prozesse, für die es keine empirischen Belege gibt. Die vorliegenden Indizien passen dagegen viel besser zu einem Design-Ansatz. Wenn dieser jedoch von vornherein als Erklärungsform ausgeschlossen wird, gerät man bei den Erklärungsversuchen in Zirkelschlüsse und ist damit nicht ergebnisoffen unterwegs auf der Suche nach der plausibelsten Antwort.

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Literatur

Maruyama M & Parker J (2017)
Deep-time parallel evolution of myrmecoid syndrome in rove beetle symbionts of army ants. Curr. Biol., http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2017.02.030. (bioRxiv preprint first posted online Sep. 20, 2016; doi: http://dx.doi.org/10.1101/076315.)
Pennisi E (2016)
A new evolutionary classic. Science 354, 813.


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