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Streiflichter


Studium Integrale Journal
19. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2012
Seite 55-64





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Abb. 1: Rekonstruktion vom 50-100 cm großen Anomalocaris. (© Katrina Kenny/University of Adelaide, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

In der letzten Ausgabe von Studium Integrale Journal (Jg. 18, S. 113f.) wurde über Fossilien „moderner“ Augen im frühen Kambrium berichtet. Der Fund vom 7-9 mm großen Komplexaugen demonstriert, dass Augen im Fossilbericht nicht primitiv beginnen, sondern in komplexer Form, vergleichbar den Komplexaugen heutiger Gliederfüßer (Lee et al. 2011). Wenige Monate nach diesem Fund wurden weitere Augenfossilien in denselben Schichten (Schieferformationen der südaustralischen Emu-Bucht) entdeckt, die es mit den leistungsfähigsten Facettenaugen heutiger Gliederfüßer aufnehmen können. Es handelt sich um zwei 2-3 cm große Facettenaugen ein und desselben Individuums. Sie werden der Gattung Anomalocaris, einem formidablen Räuber, zugeordnet (Abb. 1). Aufgrund der Größe der Augen kommt keine andere Gattung aus dieser Formation dafür in Frage (Paterson et al. 2011).

Die Augen sind aus 16.700 sechseckigen Linsen zusammengesetzt und gehören damit zu den größten und bestauflösenden bekannten Facettenaugen. Übertroffen werden sie diesbezüglich nur von den Komplexaugen einiger räuberisch lebender Libellen mit bis zu 28.000 Einzelaugen. Die Augen von Anomalocaris waren gestielt und ermöglichten daher nahezu eine Rundsicht. Paterson et al. (2011) schließen aus der Größe der Augen, dass auch das Gehirn hochentwickelt gewesen sein muss. Insgesamt war der Körperbau von Anomalocaris wie der Bauplan vieler anderer kambrischer Fomen nicht einfacher als der heutiger vergleichbarer Tiergruppen.

Die Forscher sind der Meinung, dass durch den nun nachgewiesenen Besitz von Facettenaugen die Gattung Anomalocaris zu den Gliederfüßern in eine Seitenlinie zu Insekten und Krebsen zu stellen sei. Bisher waren Augen von Anomalocaris nur in Form von Umrissen bekannt und die systematische Stellung dieser Gattung unklar. Die neuen Funde erweitern das Spektrum von Augentypen im Kambrium, von schwach auflösenden Augen eodiscoider Trilobiten (dreilappig gebaute krebsartige Tiere) bis zu den hochauflösen Augen von Anomalocaris. Es bleibt dabei: Die Fossilüberlieferung von Augen beginnt mit komplexen Formen.

R. Junker

[Lee MSY, Jago JB, García-Bellido DC, Edgecombe GD, Gehling JG & Paterson JR (2011) Modern optics in exceptionally preserved eyes of Early Cambrian arthropods from Australia. Nature 474, 631-634; Paterson RJ, García-Bellido DC, Lee MSY, Brock GA, Jago JB & Edgecombe GD (2011) Acute vision in the giant Cambrian predator Anomalocaris and the origin of compound eyes. Nature 480, 237-240.]


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Das Außenskelett (Cuticula) von Gliederfüßern (Arthropoda), welches diese Organismen umhüllt und stabilisiert, ist aus Kompositmaterial aufgebaut. Dieses besteht typischer­weise aus Chitin, einem Polysaccharid aus N-Acetylglucosamin, und Strukturproteinen. Chitin gleicht in seinem Aufbau der Cellulose, einem Hauptbestandteil pflanzlicher Zellwände, wobei eine OH-Gruppe durch eine Aminogruppe ersetzt ist, welche (meist) zusätzlich noch eine Acetylgruppe trägt. Das Außenskelett von Arthropoden ist darüber hinaus noch mit einer Wachsschicht überzogen.

Chitin wird in riesigen Mengen biosynthetisch von verschiedensten Organismen produziert und ist nach Cellulose das zweithäufigste Biopolymer. Beide am Aufbau der Cuticula der Arthropoden beteiligten Komponenten, Chitin und Proteine, werden von Mikroorganismen mit Hilfe entsprechender Enzyme sehr effizient abgebaut. Dennoch sind fossile Arthropoden aus der Zeit bis zurück zum Paläozoikum bekannt, in welchen organische Reste erhalten geblieben sind.

Mit massenspektrometrischen Methoden (Pyrolyse GC-MS) waren molekulare Hinweise auf Chitin in Fossilien bis zurück ins Tertiär gefunden worden. In älteren fossilen Cuticula-Resten von Garnelen, Seeskorpionen und Skorpionen konnten jedoch nur geradkettige, gesättigte Kohlenwasserstoffe (mit 9-22 C-Atomen) und in geringeren Mengen Alkylphenole und -benzole nachgewiesen werden. Diese Befunde wurden als Hinweise darauf interpretiert, dass in diesen fossilen Cuticula die Chitinreste fehlen und durch Fettsäuren ersetzt worden sind, die unspezifisch polymerisiert seien.

Jetzt haben Cody et al. (2011) eine Arbeit vorgelegt, in der sie durch Anwendung von speziellen Methoden der Röntgenabsorptionsspektroskopie (XANES) verschiedene Proben von Arthropoden-Außenskeletten untersucht haben. Durch die gezielte Analyse von Kohlenstoff (C), Stickstoff (N) und Sauerstoff (O) erlaubt die Methode den Nachweis von bestimmten chemischen Verbindungstypen.

Diese Untersuchungsmethode wendeten die Autoren an auf einen fossilen Seeskorpion (Eurypterus dekayi) aus dem Silur (Williamsville Formation aus Ridgemont Quarry, Ontario, Kanada; datiert auf ca. 417 Millionen Jahre) und das Fossil eines Skorpions aus dem Oberkarbon (Mittleres Pennsylvanium aus Nord-Illinois, USA; datiert auf ca. 310 Millionen Jahre). Für beide Fossilien werden außerdem Befunde angeführt, die darauf hindeuten, dass diese seit ihrer Ablagerung nicht übermäßig erhitzt worden sind. Zu Vergleichszwecken wurde auch die Cuticula eines modernen Skorpions (Heterometrus spinifer) sowie reines Chitin analysiert.

Die Untersuchungen bestätigen auch für die fossile Cuticula einen geschichteten Aufbau als Kompositmaterial. Der Chitin-Protein-Komplex ist im Vergleich zu modernem Material chemisch deutlich verändert, aber immer noch reich an N. Die Fettsäuren scheinen als Ester mit den OH-Gruppen der N-Actelylglucose verknüpft zu sein und bilden durch ihre hydrophoben Alkylreste eine Schutzschicht, welche den bereits von Abbauprozessen gekennzeichneten Chitin-Protein-Komplex vor vollständigem Abbau durch biochemische oder hydrolytische Prozesse schützt.

Die Autoren gehen davon aus, dass ein großer Anteil des in den Fossilien vorhandenen Kohlenstoffs aus dem Chitin-Protein-Komplex stammt und dass dieser aufgrund der chemischen Modifikation durch die Fettsäuren aus der Wachsschicht mit den bisher angewendeten Analysemethoden nicht nachweisbar war.

Dabei bleibt erstaunlich, dass das organische Material aus dem Außenskelett von Arthropoden überhaupt die den Fossilien zugeordneten langen Zeiten überdauert hat.

H. Binder

[Cody GD, Gupta NS, Briggs DEG, Kilcoyne ALD, Summons RE, Kenig F, Plotnick RE & Scott AC (2011) Molecular signature of chitin-protein complex in Paleozoic arthropods. Geology 39, 255-258.]


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Abb. 1: Der in Südamerike lebende Hoatzin (Opisthocomus hoazin), auch Schopfhuhn genannt. Foto: Linda De Volder; GNU Freie Dokumentationslizenz.

Eine ungewöhnliche Vogelart in den tropischen Regenwäldern des nördlichen Südamerika ist der Hoatzin, auch Schopfhuhn genannt. Auffällig sind der kleine Kopf und eine mehrere Zentimeter lange Haube, dazu sind Hals und Schwanz sehr lang (Abb. 1). Hoatzins erreichen eine Länge von bis zu 70 cm und werden bis zu knapp 1 kg schwer. Bei der Gefiederfärbung dominieren beige und braune Töne. Wegen ihrer schwachen Flugmuskulatur sind Hoatzins schlechte Flieger, aber auch die Beine werden kaum zur Fortbewegung genutzt, obwohl sie kräftig sind. Stattdessen kriechen sie und schieben sich durch das Geäst, eine für Vögel sehr eigenartige Fortbewegungsweise. Als weitere ungewöhnliche Merkmale besitzen Jungvögel Krallen an den Flügeln, die ihnen erlauben, auf allen Vieren im Geäst herumzuklettern, außerdem ein unter Vögeln einmaliges Verdauungssystem, das an Wiederkäuer erinnert. Die Verdauung der pflanzlichen Nahrung (hauptsächlich Blätter) findet im muskulösen Kropf und in der unteren Speiseröhre statt, nicht im Magen. Entsprechend ist der Kropf fünfzigmal so groß wie der Magen und macht 13 % des Gesamtgewichts des Vogels aus (Niethammer 1993). In diesen Merkmalen unterscheidet sich der Hoatzin von allen anderen Vögeln. Die schwach ausgeprägte Flugfähigkeit ist kein Ausdruck von Primitivität, sondern hängt mit dieser Ernährungsweise zusammen, da sie eine deutliche Verkleinerung des Brustbeins und damit der Flugmuskulatur erfordert. Auch die Krallen sind eher sekundäre Spezialisierungen als evolutionäre Überbleibsel (vgl. Niethammer 1993, 77).

Die Verwandtschaft des Hoatzins ist ungeklärt, auch unter Einbeziehung molekularer Merkmale (Hackett et al. 2008, Mayr et al. 2011). Daher wird er meist in eine eigene Ordnung (Opisthocomiformes) gestellt. Diverse vermutete Zugehörigkeiten (z.B. zu den Turakos, den Kuckucksvögeln, den Tauben oder den Hühnervögeln) wurden durch genetische Untersuchungen widerlegt (Hackett et al. 2008). Die evolutionäre Geschichte der Hoatzins ist unbekannt (Mayr et al. 2011).

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Abb. 2: Paläokarte des frühen Oligozän (35 Millionen Jahre nach radiometrischen Datierungen). Die Punkte zeigen: 1 Fundgebiet von Hoazinavis lacustris, 2 Namibiavis senutae und 3 Hoazinoides magdalenae. Das Verbreitungsgebiet des heutigen Hoatzin (Opisthocomus hoazin) ist gestrichelt (4). Der Pfeil zeigt die mutmaßliche Richtung der Ausbreitung des Hoatzin über den Atlantik an. (Nach Mayr et al. 2011)

Bis vor kurzen war nicht nur das Verbreitungsgebiet der heute lebenden Opisthocomiformes auf Südamerika beschränkt, sondern auch das der fossilen Formen. Doch nun beschreiben Mayr et al. (2011) zwei neue Funde fossiler Opisthocomiformes aus Brasilien und – überraschenderweise – aus Namibia (vgl. Abb. 2). Jeweils ein Oberarmknochen, Schulterblatt und Rabenschnabelbein aus dem Oligo-Miozän (22-24 Millionen Isotopenjahre) Brasiliens sind dem Schultergürtel des heutigen Hoatzin sehr ähnlich. Die Forscher schließen daraus, dass die spezialisierte Ernährung der Hoatzins bei dieser fossilen Form bereits verwirklicht war. Besonders bemerkenswert ist aber der Fund der Gattung Namibiavis aus dem Miozän Namibias (auf etwa 17 Millionen Isotopenjahre datiert). Fossile Knochen (drei Rabenschnabelbeine, sechs Oberarmknochen und ein Unterschenkelknochen) dieser Gattung waren schon seit einigen Jahren bekannt und bislang zu einer ausgestorbenen Familie der Kranichvögel gestellt worden. Eine genauere Untersuchung zeigte, dass diese Klassifikation fehlerhaft war, denn die Fossilien weisen charakteristische Knochenmerkmale von Hoatzins auf. Nun vermuten die Forscher, dass die Hoatzins nicht in Südamerika, sondern in Afrika entstanden sind.

Die geographische Verteilung wirft allerdings Fragen auf: Wie gelangten die Hoatzins bzw. nah verwandte Vögel über den Atlantik von einem Kontinent zum anderen? Afrika und Südamerika waren nach geologischen Befunden bereits vor 100 Millionen Isotopenjahren zur Kreidezeit weit voneinander getrennt. Dass diese Vogelgruppe damals schon existierte, wird im evolutionstheoretischen Rahmen nicht angenommen. Die Bewältigung einer so großen Flugdistanz ist für die kaum flugfähigen Vögel nicht möglich, auch wenn man annehmen würde, dass die miozänen Formen etwas besser fliegen konnten. Aufgrund des fossilen Materials schließen Mayr et al. jedoch aus, dass sie gute Flieger waren. Mayr et al. (2011) nehmen daher an, dass sie den weiten Weg auf Treibholz-Inseln schafften; es handle sich um das erste Beispiel eines transatlantischen Raftings bei Vögeln. Doch diese Lösung des biogeographischen Problems ist nur aufgrund evolutionstheoretischer Voraussetzungen gefordert und kaum glaubwürdig. Die sich von Blättern ernährenden Vögel müssten einen ordentlichen Nahrungsvorrat auf ihrer Reise gehabt haben. Der Hinweis von Mayr et al., dass Rafting über eine so große Strecke schon länger auch bei Säugetieren und Reptilien angenommen werde, macht diese Annahme nicht glaubwürdiger, da die Begründung dieselbe ist: durch Ozeane getrennte geographische Verbreitung, nicht aber Kenntnisse darüber, dass dies tatsächlich möglich ist. Heads (2009, 108) hält eine solche Überquerung für Primaten, bei denen ozeanweite Ausbreitung ebenfalls diskutiert wird, für ausgeschlossen.

Alternativ könnte man der Spur nachgehen, dass nicht fossil belegte Hoatzins schon viel früher als fossil belegt in geologisch nicht überlieferten Lebensräumen existierten, und zwar bereits vor der Kreidezeit, als die Kontinente noch nicht getrennt waren. Heads (2009) hält aufgrund der biogeographischen Verteilung die Annahme für geboten, dass ein Vorläufer der Primaten bereits im Jura vor 185 Millionen Isotopenjahren gelebt haben könnte. Das würde allerdings bedeuten, dass bei mehreren Formengruppen während der meisten Zeit ihrer Existenz fossile Belege fehlen. Ob solche Szenarien im Rahmen großer Zeiträume glaubhaft sind, kann man bezweifeln.

R. Junker

[Hackett SJ, Kimball RT, Reddy S, Bowie RCK, Braun EL, Braun MJ, Chojnowski JL, Cox WA, Han K-L, Harshman J, Huddleston CJ, Marks BD, Miglia KJ, Moore WS, Sheldon FH, Steadman DW, Witt CC & Yuri T (2008) A phylogenomic study of birds reveals their evolutionary history. Science 320, 1763-1767; Heads M (2009) Evolution and biogeography of primates: a new model based on molecular phylogenetics, vicariance and plate tectonics. Zoologica Scripta 39,107-127; doi:10.1111/j.1463-6409.2009. 00411.x;Mayr G, Alvarenga H & Mourer-Chauviré C (2011) Out of Africa: Fossils shed light on the origin of the hoatzin, an iconic Neotropic bird. Naturwissenschaften 98, 961-966; Niethammer G (1993) Unterordnung Hoatzins. In: Grzimek B u. a. (Hg) Grzimeks Tierleben. Vögel 2. München, S. 76-78.]


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Fledermäuse sind in der Lage, ihre Umgebung mit Hilfe von Ultraschall so genau zu scannen, dass man ihre Fähigkeiten am besten mit „Echo-Bildsehen“ beschreibt. Wenn man so will: Fledermäuse „sehen“ mit den Ohren (vgl. die Beiträge über Fledermäuse in den letzten beiden Ausgaben von Studium Integrale Journal). Aber anders als beim Sehen mit den Augen müssen die Fledermäuse auch noch die Daten teilweise selbst generieren, deren Auswertung dann das Echobild liefert.

Um eine geortete Beute schlagen zu können, müssen die Fledermäuse ihre Ultraschall-Rufe bei Annäherung zunehmend häufiger und kürzer ausstoßen, bis sie schließlich kaum vorstellbare 190 Rufe pro Sekunde erreichen (deren Echo sie aufnehmen und auswerten). Bisher erschien den Forschern diese Schlussphase extrem häufiger Rufe, der sogenannte „terminal buzz“, rätselhaft; es war unbekannt, wie die Fledermäuse die Laute in so schneller Abfolge erzeugen können. Biologen von der Universität von Süddänemark in Odense und der Universität von Pennsylvania in Philadelphia kamen den Fledermäusen nun auf die Schliche (Elemans et al. 2011). Sie entdeckten bei Wasserfledermäusen (die knapp über Wasseroberflächen nach Insekten jagen) hochspezialisierte „superschnelle“ Muskeln, deren Tätigkeit die schnellen Laute ermöglicht. Experimente mit isolierten Muskelfaserbündeln des Kehlkopfs von Myotis daubentonii zeigten, dass die Kehlkopfmuskeln der Fledermaus sich bis zu 200 Mal pro Sekunde zusammenziehen können. Der Kehlkopfmuskel kann sich damit bis zu zwanzig Mal schneller zusammenziehen als die schnellsten Muskeln des Menschen, die bei der Augenbewegung gebraucht werden (d. h. diese kontrahieren nur 20 mal pro Sekunde).

Außerdem konnten die Forscher zeigen, dass die Leistungsfähigkeit des Kehlkopfmuskels der limitierende Faktor bei der Häufigkeit der Laute ist und nicht die bei Annäherungen an die Beute zunehmende Überlappung von Ruf und Echo.

Die superschnellen Muskeln des Kehlkopfs sind aber auch noch aus einem weiteren Grund interessant. In Spektrumdirekt wird Coren Elemans mit folgenden Aussagen über den superschnellen Muskeltypus zitiert: „Das ist eine ganz andere Muskelart als unsere normalen Skelettmuskeln. ... Wir haben etliche Anpassungen auf zellulärer und molekularer Ebene gefunden, zum Beispiel eine stark erhöhte Mitochondrienanzahl und sehr viel mehr sarkoplasmatisches Retikulum, welches Kalzium in und aus der Zelle pumpt.“ Dieser Muskeltypus ist auch bei Klapperschlagen, einigen Fischen und Vögeln bekannt, also bei Arten, die in der Systematik deutlich getrennt stehen. Er müsste also mehrfach unabhängig, konvergent entstanden sein. In allen Fällen spielen die superschnellen Muskeln eine wichtige Rolle bei der akustischen Kommunikation. So zwitschern auch Singvögel mit Hilfe superschneller Stimmmuskeln. Beim Europäischen Star (Sturnus vulgaris) und beim Zebrafinken (Taeniopygia guttata) dauert ein Zyklus von Kontraktion und Entspannung nur 3-4 Millisekunden (E lemans et al. 2008). Mit dem Nachweis von superschnellen Muskeln bei Wasserfledermäusen sind nun diese erstmals auch bei Säugetieren beschrieben worden. Ihre Verteilung bei verschiedenen Tieren erfordert eine mehrfach unabhängige Entstehung, was die Existenz dieser besonderen Muskeln noch erstaunlicher macht.

R. Junker

[Anonymus (2011) Fledermäuse orten dank superschneller Muskeln. www.wissenschaft-online.de/artikel/1124502; Elemans CEP, Mead AF, Rome LC & Goller F (2008) Superfast Vocal Muscles Control Song Production in Songbirds. PLoS ONE 3(7): e2581. doi: 10.1371/journal.pone.0002581; Elemans CPH, Mead AF, Jakobsen L & Ratcliffe JM (2011) Superfast Muscles Set Maximum Call Rate in Echolocating Bats. Science 333,1885-1888.]


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Es ist bereits lange bekannt, dass es einen Zusammenhang zwischen der intensiven Verfütterung von Gelee Royal (auch als Weiselfuttersaft oder Bienenköniginnenfuttersaft bezeichnet) an Bienen-Larven und der Entwicklung von Bienenköniginnen anstelle von Arbeiterinnen gibt.

Gelee Royal besteht vor allem aus Wasser und Zuckern, enthält darüber hinaus aber auch eine Fülle verschiedenster weiterer Stoffe wie Proteine, Fettsäuren und Mineralien. In umfangreichen Untersuchungen konnte Kamakura (2011) nun zeigen, dass ein Protein, Royalactin, mit einer Masse von 57 kDa (entspricht einem Polypeptid aus ca. 520 Aminosäuren) die dramatischen Veränderungen in der Larvenentwicklung auslöst. Die Königin bei Honigbienen (Apis mellifera) weist im Vergleich zu einer Arbeiterin eine verkürzte Entwicklungsdauer, eine deutlich höhere Körpermasse und stark vergrößerte Eierstöcke auf.

Andere Untersuchungen hatten hormonelle Ursachen für die differenzierte Larvenentwicklung bei Bienen in den Fokus gerückt. Es ist daher nahe liegend, dass bei der Regulation der Larvenentwicklung viele Faktoren zu berücksichtigen sind.

Überraschenderweise zeigt Royalactin aber auch vergleichbare Wirkung, wenn es an Larven der Taufliege Drosophila verfüttert wird. Dies ermöglicht einerseits aufgrund der umfangreichen Kenntnisse über diese Fliegen viele weitere Untersuchungsmöglichkeiten, andererseits tauchen aber auch spannende Fragen auf (Robinson 2011): Warum wirkt dieses Protein, das bei Honigbienen vorkommt, auch bei Fliegen, die zu einer ganz anderen Insektenordnung gehören und sich von den Bienen nach evolutionären Vorstellungen seit mehr als 300 Millionen Jahren getrennt haben und sich unabhängig entwickeln? Was macht diese Funktion für einen Sinn bei Organismen, die sich nicht als soziale Insekten organisieren und damit auch keine unterschiedlichen Kasten mit entsprechender Arbeitsteilung aufweisen?

Haben Royalactin oder ähnliche Substanzen auch andere Funktionen? Eine Reihe von spannenden Fragen für weitere Forschung.

H. Binder

[Kamakura M (2011) Royalactin induces queen differentiation in honeybees. Nature 374, 478-483; Robinson GE (2011) Royal aspirations. Nature 473, 454-455.]


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Ein großes Anpassungspotential wurde bei Untersuchungen von Königslachsen entdeckt, die einige Flüsse Nordamerikas bevölkern. Für die Lachse (Oncorhynchus tshawytscha) sind die Flüsse ein neuer Lebensraum. In den 1960er Jahren wurden sie als Jungfische in einigen Flüssen bei den Großen Seen in Nordamerika ausgesetzt, um andere Fischarten zu vertreiben. Dies gelang mit gutem Erfolg. Die aus Zuchtprogrammen stammenden Fische verwilderten und breiteten sich aus. Aus dem Lake Huron, ihrer neuen Heimat, breiteten sie sich auch in weitere Flüsse aus, in die sie anfangs gar nicht entlassen worden waren, und spalteten sich in mehrere genetisch unterscheidbare Stämme auf. Die Aufspaltungen in die verschiedenen Lachsstämme erfolgten in maximal zehn Generationen (die durchschnittliche Generationsdauer der Lachse beträgt etwas mehr als 3 Jahre). Untersucht wurden Fische in 13 Flüssen und 2 Brutstätten; ihre genetischen Unterschiede wurden in bestimmten DNA-Bereichen, sogenannten Mikrosatelliten ermittelt, die eine relativ hohe Mutationsrate aufweisen. Insgesamt zeigen die untersuchten Sequenzen verschiedener Lachsgruppen sechs verschiedene Muster.

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Abb. 1: Stromaufwärts springende Königslachse (Oncorhynchus tshawytscha; Public domian)

Die Fische wanderten ursprünglich aus ihrer nordpazifischen Heimat zum Laichen an ihre Geburtsstätten in große Flüsse wie den Fraser River und den Yukon. Die Lebensräume in den Flüssen, in die die Lachse eingebracht wurden bzw. die sie erobert haben, unterscheiden sich untereinander wie auch von ihren angestammten Lebensräumen. Offenbar besaßen die eingeführten Lachse ein entsprechendes Variationspotential, um sich innerhalb weniger Generationen an verschiedene Umwelten so rasch anpassen zu können. Das ist erstaunlich, da die Fische alle Nachkommen von Elterntieren aus einer einzigen Population waren, einem Stamm aus dem Green River im US-Bundesstaat Washington. Bei einer solch rasanten Entwicklung könnten aus den neuen Lachsstämmen auch in kurzer Zeit neue Lachs-Arten entstehen.

R. Junker

[Suk HY, Neff BD, Kwach LK & Morbey YE (2011) Evolution of introduced Chinook salmon (Oncorhynchus tshawytscha) in Lake Huron: emergence of population genetic structure in less than 10 generations. Ecol. Freshwater Fish, DOI: 10.1111/j.1600-0633.2011. 00542.x]


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Abb. 1: Die Schwebfliege Helophilus pendulus kommt häufig an Gewässern vor. Foto: Winfried Borlinghaus.

Die Zweiflügler (Diptera, Fliegen und Mücken) sind uns vor allem bekannt durch die Stubenfliege (Musca domestica), die Taufliege Drosophila (sei es als Modellorganismus in vielen Labors oder als Gast in der Küche) oder durch Parasiten wie die Malaria übertragende Anopheles-Mücke. Letztes Jahr veröffentlichte ein Forschungsteam (Wiegmann et al. 2011) einen Stammbaum der Fliegen auf der Basis molekularer und morphologischer (gestaltlicher) Ähnlichkeiten. Vertreter aus 149 der 157 Fliegenfamilien wurden einbezogen, 14 Bereiche der Kern-DNA, das komplette Erbgut der Mitochondrien und 371 morphologische Merkmale lagen zugrunde.

Zwei Ergebnisse dieser umfangreichen Studie sollen hier besondere Erwähnung finden: Im Rahmen einer evolutionstheoretischen Interpretation deuten die ermittelten Daten zum einen darauf hin, dass es drei Episoden einer „schnellen Radiation“ (Aufspaltung) gegeben hat. Dadurch seien die Verwandtschaftsverhältnisse schwer aufklärbar. Das hängt auch damit zusammen, dass – wie so oft – morphologische und molekulare Daten widersprüchlich seien. Dies führt zu einem zweiten beeindruckenden Befund: Für zahlreiche Merkmale und Lebensweisen müssen vielfach Konvergenzen angenommen werden, also deren unabhängige Entstehung auf stammesgeschichtlich getrennten Ästen. So ist das Blutsaugen (Hämatophagie) nach dem ermittelten Phylogramm 12 mal konvergent entstanden, Endoparasitismus, also die Entwicklung der Larven in den Körpern anderer Organismus, sogar 17 mal. Dabei muss man bedenken, welche komplexen physiologischen und verhaltensbiologischen Merkmale dafür erforderlich sind. 10 mal unabhängig ist Ektoparasitismus entstanden (Parasitismus an der Körperoberfläche von Wirtsarten).

Weiter muss angenommen werden, dass 18 mal unabhängig die Flugfähigkeit eingebüßt wurde, und dass 26 mal die pflanzliche Ernährungsweise entstand (Wiegmann et al. 2011, 5694). Die Autoren weisen indirekt darauf hin, dass die Ursachen für diese Übergänge unbekannt sind, diese müssten durch zukünftige Untersuchungen ermittelt werden.

R. Junker

[Wiegmann BM, Trautwein MD et al. (2011) Episodic radiations in the fly tree of life. Proc. Natl. Acad. Sci. 108, 5690-5695.]


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In den derzeit diskutierten Modellen über die Zusammensetzung der Atmosphäre auf der frühen Erde gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass die Gaszusammensetzung vor über 4 Milliarden Jahren hauptsächlich von Gasen beeinflusst war, die durch vulkanische Aktivität aus dem Erdinnern in die Atmosphäre gelangten (Kasting 1993). Für die Szenarien zur Lebensentstehung und die Synthesereaktionen der dafür notwendigen Moleküle hat die Zusammensetzung der Erdatmosphäre großen Einfluss.

Die Herausforderung besteht nun darin, Daten zu finden, anhand derer die Vorstellungen über die Zusammensetzung der Erdatmosphäre getestet werden können. Als sehr alte geologische Proben kennt man Mineralien, die als Zirkon (Zirkonsilikat, ZrSiO4) bezeichnet werden. Dieses Mineral ist in abkühlendem Magma auskristallisiert. Dabei wurden auch andere Elemente in den Kristall eingebaut. Die ältesten Zirkonkristalle werden auf ca. 4,4 Milliarden Jahre datiert. Trail et al. (2011) haben das Element Cer in diesen alten Zirkonkristallen untersucht. Das Seltenerdenmetall Cer kommt in verschiedenen Oxidationsstufen vor (Ce3+ und Ce4+) und das Verhältnis dieser beiden Formen könnte Auskunft darüber geben, wie die Redox-Bedingungen zur Zeit der Kristallbildung waren. Um dies herauszufinden haben die Autoren im Labor Zirkonkristalle unter verschiedenen Oxidationsbedingungen gezüchtet.

Die Resultate ergaben, dass die Oxidationsbedingungen zur Zeit der Zirkonbildung vergleichbar mit den heutigen waren. Dies hätte zur Folge, dass in der Atmosphäre die für die Synthese von organischen Mole-külen bedeutsamen Elemente Koh-len-stoff (C), Wasserstoff (H), Stickstoff (N) und Schwefel (S) überwiegend als CO2, H2O, N2 und SO2 vorliegen, also in oxidierter Form.

Für die Experimente zur Simulation der Lebensentstehung (z. B. Ur-suppen-Experimente von Miller) war man zunächst von einer reduzierenden Atmosphäre (CH4, H2, NH3) ausgegangen. Diese Ausgangsverbindungen würden die Synthesen von Aminosäuren und Bausteinen der Nukleinsäuren begünstigen. Selbst unter dermaßen günstigen hypothetischen Bedingungen konnte aber bisher die spontane Entste- hung elementarer Biomoleküle nicht plausibel gemacht werden.

Neuere Befunde – wie auch die hier vorgestellten – deuten nun darauf hin, dass die Bedingungen noch ungünstiger waren als ursprünglich gedacht. Einer der Autoren formulierte das in einem Gespräch folgendermaßen: „Wir können nun mit einiger Sicherheit sagen, dass viele Wissenschaftler, die die Entstehung des Lebens auf der Erde erforschen, einfach die falsche Atmosphäre ausgewählt haben“ (http://www.science-daily.com/releases/2011/11/1111300141855.htm).

Die Untersuchungen von Trail et al. (2011) liefern nur Anhaltspunkte über die Redox-Bedingungen zur Zeit der Bildung der Zirkonkristalle, über den Sauerstoffanteil in der Atmosphäre geben sie keine Auskunft.

H. Binder

[Kasting JF (1993) Earth’s early atmosphere. Science 259, 920-926; Trail D, Watson EB & Tailby ND (2011) The oxodation state of Hadean magmas and implications for early earth’s atmosphere. Nature 480, 79-82.]


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Dieter Braun erforscht mit seiner Arbeitsgruppe „Systems Biophysics“ an der LMU München das Verhalten von Biomolekülen in kleinräumigen Systemen mit Temperaturgradienten. Damit versuchen die Wissenschaftler Bedingungen nachzuahmen, wie sie an hydrothermalen Quellen vorkommen, die sich in Bereichen vulkanischer Aktivität am Ozeanboden finden. Braun und seine Mitarbeiter hoffen, durch diese Untersuchungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse Schritte beschreiben zu können, die zu ersten Replikationssystemen mit Nukleinsäuren geführt haben könnten. Dies wäre ein bedeutender Beitrag, der die RNA-Welt-Hypothese stützen könnte. Jüngst wurden die Arbeiten von Braun mit dem hochdotierten Klung-Wilhelmy-Weberbank-Preis ausgezeichnet.

Braun et al. hatten Prozesse beschrieben und untersucht, bei denen in kleinräumigen Systemen mit Temperaturgradienten kreis- oder walzenförmige Strömungsmuster ausgelöst werden (Baaske et al. 2007, Mast & Braun 2010). Solche durch Temperaturgradienten verursachten Strömungen führen zum Transport von Teilchen (Thermophorese). Systeme dieser Art könnten z. B. in mit Wasser gesättigtem porösem Gestein etabliert werden. Teilchen, die in dieser Strömung transportiert werden, würden sich also regelmäßig abwechselnd in kühler und dann wieder in warmer Umgebung befinden. Temperaturwechsel dieser Art werden z. B. bei Reaktionssystemen benötigt, in denen Nukleinsäuremoleküle (DNA oder RNA) repliziert werden (z. B. in so genannten Polymerase-Ketten-Reaktionen, PCR). Bei höheren Temperaturen trennen sich die beiden Stränge der Doppelhelix der DNA. Unter kühleren Bedingungen werden dann die Einzelstränge durch synthetische Ergänzung (unter Beteiligung entsprechender Enzyme) komplettiert – sofern alle für die Reaktionen notwendigen Komponenten vorhanden sind – und sie vereinigen sich zu Doppelsträngen. Diese trennen sich dann bei höherer Temperatur erneut auf usw.

Darüber hinaus fanden Braun und seine Kollegen, dass sich in den eben beschriebenen Strömungssystemen in kleinsten Räumen (Gesteinsporen) Makromoleküle anreichern lassen. Diese Befunde wurden im Labor nachgestellt und dann theoretisch untersucht.

In den Veröffentlichungen haben Braun und seine Co-Autoren die Laborsysteme beschrieben und erklärt und dann diese Zusammenhänge auf hydrothermale Quellen am Ozeanboden („schwarze“ und „weiße Raucher“ an der Nähe der Mittelozeanischen Rücken) übertragen. Mit ihren Untersuchungen beabsichtigen die Autoren ein Modell plausibel zu machen, in dem erste Nukleinsäuremoleküle vervielfältigt und auch angereichert werden könnten. In den porösen Mineralablagerungen der Schlote am Ozeangrund, durch die heißes mineralreiches Wasser strömt und die außen von kaltem Ozeanwasser umgeben sind, könnten sich in den Poren die oben genannten

Bedingungen einstellen und die im Labor demonstrierten Prozesse abspielen – angetrieben durch den Temperaturunterschied. Modellierungen liefern sehr verheißungsvolle Resultate (Obermayer et al. 2011). Polynukleotide lassen sich tatsächlich anreichern und vervielfältigen (PCR). Braun et al. haben damit begonnen, diese Befunde für verbesserte biotechnische Prozesse zu nutzen.

Braun und seine Mitarbeiter haben mit diesen Untersuchungen Phänomene beschrieben und zumindest teilweise erklärt, die möglicherweise zu erheblichen Verbesserungen von biotechnischen Prozessen führen können. Ob jedoch die modellierten und im Labor demonstrierten Prozesse in hydrothermalen Tiefseequellen stattfinden, ob die Temperaturgradienten sich in geeigneten Bereichen ausbilden und die notwendigen chemischen Ausgangsstoffe vorhanden sind, ist bisher nicht geklärt. Außerdem zeigt die Erfahrung im Syntheselabor, dass man zur Vermehrung von Nukleinsäuren extrem reine Ausgangsverbindungen benötigt und den Ausschluss von Verunreinigungen, die die Synthese stören, gewährleisten muss. Das bedeutet: Ob die beschriebenen Vorgänge in der Natur ablaufen, ist völlig unklar und bisher nicht beobachtet. Besonders problematisch ist die genannte Frage nach der Spezifität der chemischen Prozesse. Selbst wenn erste Nukleinsäure-Oligomere in bestimmten Bereichen von hydrothermalen Schloten vorkommen sollten, ist nicht zu erwarten, dass in den Poren mit Temperaturgradienten ausschließlich die gewünschten Moleküle vorkommen. Auch andere Moleküle sollten vom Thermophoreseprozess (s. o.) erfasst und angereichert werden. Die Spezifität, die für die Etablierung von RNA-Replikation erforderlich ist, wird im Labor durch die Wahl und Vorgabe entsprechender Randbedingungen bei den Experimenten erzielt. Wie eine vergleichbare Spezifität ohne solche Vorgaben erreicht werden kann, ist bisher nicht gezeigt worden. Leslie Orgel (2008) hatte darauf hingewiesen, dass Hypothesen, die nicht einen Replikator (kopierfähige Nukleinsäure) wie RNA, sondern einen Metabolismus (Stoffwechsel) am Anfang der Lebensentstehung vermuten, an derselben Klippe scheitern: „Fehlende Spezifität scheint die Entstehung komplexer autokatalytischer Abläufe jeder Art eher zu blockieren als unzureichende Effektivität.“

H. Binder

[Baaske P, Weinert FM, Duhr S, Lemke KH, Russel MJ & Braun D (2007) Extreme accumulation of nucleotides in simulated hydrothermal pore systems. Proc. Nat. Acad. Sci. USA 104, 9346-9351; Mast CB & Braun D (2010) Thermal trap for DNA replication. Phys. Rev. Lett. 104, 188102; Obermayer B, Krammer H, Braun D & Gerland U (2011) Emergence of Information transmission in a prebiotic RNA reactor. Phys. Rev. Lett. 107, 018101; Orgel LE (2008) The Implausibility of Metabolic Cycles on the Prebiotic Earth. PLoS Biol. 6, e18, doi:10.1371/journal.pbio. 0060018.]


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Es ist schon seit einigen Jahren bekannt, dass Zweiflügler (Diptera) aus der Familie der Schmeißfliegen (z. B. Calliphora erythrocephala) eine „Dreigangschaltung“ in Form eines mechanischen Bauteils im Flügelgelenk anwenden, um ihren Auf- und Vortrieb, aber auch die Flugrichtung zu steuern (vgl. Seeger 1996). Dies geschieht, indem die annähernd körperparallele Drehachse, um welche sich der Flügel beim Auf- und Abschlag bewegt, in drei verschiedenen Positionen von innen nach außen verlagert werden kann. Die sich dadurch ergebende unterschiedliche Schlag-Amplitude sorgt für eine entsprechende Veränderung der effektiven Antriebsleistung. Durch eine unterschiedliche „Schaltung“ der beiden Flügel kann die Fliege ihren geschickten Kurvenflug realisieren.

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Abb. 1: Die Stiftschwebfliege Sphaerophoria scripta. Foto: Winfried Borlinghaus.

Nun sind weitere Details der „Fliegen-Flugtechnik“ analysiert worden. Simon M. Walker, Adrian L. R. Thomas und Graham K. Taylor, Mitarbeiter der Zoologischen Abteilung der Universität Oxford untersuchten Fliegen der Familie der Schwebfliegen (Syrphidae; Walker et al. 2011). Einige Arten dieser Fliegen sind als Blattlausvertilger bekannt und gelten deshalb als „Nützlinge“ im Obst- und Gartenbau. Die Flugleistungen einiger Schwebfliegen-Arten sind legendär, denn sie können ähnlich den Zugvögeln als „Langstrecken-Zieher“ enorme Strecken zurücklegen und sogar die Alpen überqueren! Sie sind außerdem äußerst manövrierfähig und fallen durch ihre ruckartigen Flugbewegungen auf, die sich mit längeren Schwebphasen auf der Stelle abwechseln. Die Autoren haben nun mit Hilfe von Hochgeschwindigkeits-Zeitlupenaufnahmen und Computermodellen die Flügelbewegungen dieser „Flug-Experten“ genauer analysiert. Hierbei fiel ihnen speziell beim Kurvenflug der Fliege deren gezielter Einsatz einer sich jeweils am hinteren inneren Flügelrand befindlichen „Klappe“ (Alula) auf. Bei den Vögeln bezeichnet man spezielle Federn am Vorderflügel als Alula (Daumenfittich). Diese Auftriebshilfe verhindert den Strömungsabriss bei niedrigen Fluggeschwindigkeiten. Bei Flugzeugen werden entsprechende Klappen (flaps) sowohl am Vorder- als auch am Hinterrand der Tragfläche eingesetzt. Hintere Tragflächen-Klappen besitzen fast alle Fliegen der Unterordnung Brachycera. Sie nehmen bei den Schwebfliegen etwa 10% der Tragfläche in Anspruch. Die Zeitlupenaufnahmen zeigen, dass die Schwebfliegen (und vermutlich auch andere Fliegen) diese Klappe nutzen, um den Auf- und Vortrieb eines Flügels zu drosseln, indem sie diese nach unten klappen und eine geringere Schlagamplitude erzeugen. Da die Schwebfliegen-Alula während des Fluges bei beiden Flügeln unterschiedlich eingestellt werden kann (ähnlich der beobachteten „Dreigangschaltung“ von Schmeißfliegen), muss diese Funktionsweise als weiteres effizientes Steuerelement für den perfekten Kurvenflug angesehen werden. Diese erstaunlich ausgereiften und perfekten Funktionen bei diesen „Natur-Fluggeräten“ werfen Fragen nach ihrem Ursprung auf. Schließlich finden Wissenschaftler im entdeckten Mechanismus eine Anregung und ein Vorbild für das Design moderner Fluggeräte, die, entsprechend intel-ligent ausgestattet, ähnlich fehler-freie Flugmanöver durchführen könn-ten wie eine Schwebfliege. Sollte ihr Vorbild ohne Planung entstanden sein?.

W. Borlinghaus

[Walker SM, Thomas ALR & Taylor GK (2011) Operation of the alula as an indicator of gear change in hoverflies. J. R. Soc. Interface, doi: 10.1098/?rsif.2011.0617; Seeger W (1996) Auf gläsernen Schwingen: Schwebfliegen. Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde, Nr. 40, Stuttgart.]


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Antibiotika sind aus der heutigen Medizin nicht wegzudenken. Diese „gegen das Leben“ von Bakterien gerichteten Stoffe haben schon vielen Menschen das Leben gerettet, die sonst durch Bakterien ausgelösten Infektionskrankheiten erlegen wären. Antibiotika hemmen das Wachstum von Bakterien oder töten diese ab. So segensreich Antibiotika in der Medizin eingesetzt werden können, so problematisch ist die Tatsache, dass bakterielle Krankheitskeime gegen Antibiotika resistent werden können – also sich „geschickt“ ihrer todbringenden Wirkung entziehen können –, so dass die Antibiotika wirkungslos bleiben.

Der Erwerb der Antibiotika-Resistenz spielt auch in der Diskussion um Evolution eine Rolle. Er wird oft als Beispiel für beobachtbare evolutive Veränderungen und somit als Beleg für Evolution genannt.

Nun haben Untersuchungen bestätigt, dass die genetischen Voraussetzungen für Antibiotika-Resistenzen in vielen Fällen ein Phänomen sind, das schon lange vor dem klinischen Gebrauch von Antibiotika vorhanden war. Das zeigten kanadische Wissenschaftler von der McMaster Universität in Hamilton (D’Costa et al. 2011) durch Untersuchungen bakterieller DNS aus Permafrostböden des Yukon-Gebiets in Nordwest-Kanada, die auf 30.000 Jahre datiert wurden. Dabei wurde eine Reihe von Resistenzgenen gegen verschiedene gebräuchliche Antibiotika wie Penicillin und dessen Verwandte sowie gegen Tetracyclin- und Glycopeptid-Antibiotika nachgewiesen. Genauere Untersuchungen des Vancomycin-Resistenz-Elements VanA belegten die Ähnlichkeit zu modernen Varianten.

Bisher war man davon ausgegangen, dass Resistenzen ein modernes Phänomen sind, das durch den Einsatz von Antibiotika und damit verbundene starke Selektion neu entstanden sei. D’Costa et al. (2011, 457) stellen dagegen fest: „Die Ergebnisse zeigen schlüssig, dass Antibiotika-Resistenz ein natürliches Phänomen ist, das modernen Selektionsdrücken durch klinischen Antibiotika-Gebrauch vorausgeht.“ Eine Kontamination mit heutigen Bakterien schließen die Wissenschaftler aufgrund von Vergleichen von DNS anderer Organismen aus den Permafrostböden aus.

R. Junker

[D’Costa VM, King CE et al. (2011) Antibiotic resistance is ancient. Nature 477, 457-461]


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Abb. 1: Die wiederbelebte Lichtnelke Silene stenophylla. © David Gilichinski, PNAS.

Russischen Wissenschaftlern ist es in einem beeindruckenden und von den Medien stark beachteten Experiment gelungen, aus eiszeitlichen Pflanzenresten blühende Pflanzen hervorgehen zu lassen (Abb. 1; Yashina et al. 2012). Das Material stammt aus Erdhöhlen, die als Futterverstecke von Erdhörnchen (Arktischer Ziesel: Urocitellus = Spermophilus parryii) im Permafrost Sibiriens gegraben wurden und 38 m unter der heutigen Oberfläche liegen. Zur Datierung (C-14) wurde das Pflanzenmaterial selber herangezogen und ein radiometrisches Alter von ca. 32.000 Jahren (Spätes Pleistozän) bestimmt. In der Höhle herrscht eine Temperatur von -7 °C und sie war den vorgefundenen Indizien zufolge die gesamte Zeit über gefroren. Das Untersuchungsgebiet liegt in der arktischen Tundra, in der nur die oberen 30-200 cm des Bodens im Sommer auftauen, währen der Rest sich im Dauerfrost befindet. Solche Permafrostböden machen etwa 20% der Erdoberfläche aus.

Das Besondere an den neuen Ergebnissen ist, dass aus den Pflanzenresten vitale Pflanzen regeneriert werden konnten, die zum Blühen kamen und ihrerseits durch Samen weiter vermehrt werden konnten. Unter den gefundenen Pflanzenresten fanden sich regelmäßig solche der auch heute in diesem Bereich weit verbreiteten Schmalblättrigen Lichtnelke = Leimkraut (Silene stenophylla), die sich in Vorversuchen als besonders resistent gegenüber Kälteeinwirkung erwiesen hatte. Diese Art ist sehr vital und an die arktischen Verhältnisse bestens angepasst. Es ist eine ausdauernde Polsterpflanze von nur 5-22 cm Wuchshöhe und mit sehr schmalen Blättern von nur 1-2 mm Breite. Zwar waren die fossilen Samen nicht mehr keimfähig, aber es gelang den Forschern, teilungsfähiges (embryonales) Gewebe aus der sog. Plazenta von drei noch nicht ausgereiften Früchten im Reagenzglas zur Vermehrung zu bringen. Aus diesen Gewebekulturen konnten nach entsprechender Behandlung Pflanzen regeneriert werden, die sich normal entwickelten. Im zweiten Jahr kamen sie zum Blühen und nach künstlicher Bestäubung brachten sie zu 100% keimfähige Samen hervor, aus denen sich neue Pflanzen entwickelten.

Dies stellt einen neuen Altersrekord der Überlebensfähigkeit von mehrzelligen Organismen dar. Zwar gab es Berichte über die Keimung von 10.000 Jahre alten Lupinensamen (Lupinus arcticus) aus einer Lemminghöhle in Yukon, Kanada. Nachuntersuchungen mit einer radiometrischen Altersbestimmung am Material selber (Zazula et al. 2009) ergaben aber, dass die keimenden Samen nur wenige Jahre alt waren, also nicht pleistozänen Ursprungs. Damit bleibt der derzeitige Altersrekord keimfähiger Samen mit immerhin noch erstaunlichen 2000 Jahren bei der Dattelpalme (Phoenix dactylifera) aus der Umgebung des Toten Meeres.

Die regenerierten Pflanzen von Silene stenophylla unterscheiden sich nur unwesentlich von heutigen Vertretern dieser Art. So sind etwa die Kronblätter schmaler und vorne weniger eingeschnitten. Auffällig ist allerdings, dass bei den alten Pflanzen die ersten zwei bis drei gebildeten Blüten rein weiblich waren, und erst die späteren Blüten zweigeschlechtlich, während bei den rezenten Vertretern alle Blüten zweigeschlechtlich sind. Diesem Befund dürfte aber keine allzu große Bedeutung zukommen, da bei Lichtnelken durchaus zwittrige, weibliche und männliche Blüten nebeneinander vorkommen können. Die Autoren erklären denn auch die gefundenen Unterschiede mit der ökologischen Anpassung an die sehr unterschiedlichen Umwelt-
situationen.

Die Autoren heben hervor, wie wichtig Permafrostböden als Lagerstätte für Leben seien, das längst von der Erde verschwunden schien. Es läge ein wertvoller Genpool aus vergangenen Zeiten vor, der sowohl für die Züchtung als auch für das Studium mikroevolutiver Prozesse von Bedeutung sein könnte. Man kennt nämlich zahlreiche solcher Erdhöhlen in Alaska, Kanada und im Norden Eurasiens. In ihnen und im benachbarten Boden liegen Überreste von Bakterien, Sporen, Pollenkörnern, aber auch ganze Pflanzen oder Insekten bis hin zu Mammuts. Daher wurde in den Medien zum Teil die Frage aufgeworfen, ob man nun bald auch Mammuts aus dem Permafrost durch Klonen wieder zum Leben erwecken könne. Doch das ist im Gegensatz zu Pflanzen mit ihrer hervorragenden Regenerationsfähigkeit Zukunftsmusik.

H. Kutzelnigg

[Yashina S, Gubin S, Maksimovich S, Yashina A, Kakhova E & Gilichinsky D (2012) Regeneration of whole fertile plants from 30,000-y-old fruit-tissue buried in Siberian permafrost. Proc. Natl. Acad. Sci. 109, 4008-4013; doi: 10.1073/pnas.1118386109; Zazula GD, Harington CR, Telka AM & Brock F (2009) Radiocarbon dates reveal that Lupinus arcticus plants were grown from modern not Pleistocene seeds. New Phytologist 182, 788-792.]


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Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012