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Streiflichter


Studium Integrale Journal
16. Jahrgang / Heft 1 - Mai 2009
Seite 55 - 62





In Bakterien treibt ein winzig kleiner Motor mit mehreren Hundert Umdrehungen pro Minute eine korkenzieherartig gewundene Welle (Geißel) an. Trotz seiner geringen Größe von wenigen Nanometern erweist sich der Motor als kraftvoller Antrieb, der das Bakterium in flüssiger Umgebung innerhalb einer Sekunde um das fünfzehn- bis zwanzigfache seiner Körperlänge vorwärts katapultiert. Im Vergleich zu modernen U-Booten bewegt sich das Bakterium ungefähr fünfzig mal schneller (Bickel 2006).

Wie der Antrieb der Bakterien funktioniert, ist schon seit längerem bekannt. Die Entdeckung einer Art Kupplung löste nun das Rätsel, wie wie die Motorkraft ab- und zugeschaltet wird.

An der Universität von Indiana in Bloomington (USA) untersuchte ein Team unter der Leitung des Biologen Daniel Kearns das Phänomen des Biofilms. Darunter versteht man eine strukturierte Anhäufung von vielen Millionen Mikroorganismen, die zusammen eine Art Ökosystem bilden. Die Gemeinschaft in einem Biofilm stellt bei weitem die wichtigste Lebensweise vieler Mikroorganismen dar (Szewzyk & Szewzyk 2003).

Bei ihren Untersuchungen stießen die Forscher in dem Bakterium Bacillus subtilis auf ein Gen, das für ein Protein namens EpsE verantwortlich ist (Blair et al. 2008). Sie entdeckten dabei eher zufällig, dass bei eingeschaltetem Gen die aktive Bewegung der Bakterien aufhörte. Daraus folgerten die Forscher, dass das Protein EpsE für eine An- und Abkupplung der Antriebswelle vom Bakterienmotor verantwortlich ist.

Die Bakterien treten sozusagen die Kupplung wie der Fahrer eines Autos. Während beim Auto mechanisch über das Pedal die Antriebswelle vom Motor getrennt wird, bildet das Bakterium ein spezielles Protein, um in den Leerlauf zu schalten. Daniel Kearns kommentierte die Entdeckung mit folgenden Worten: Es ist schon ziemlich cool, dass evolvierende Bakterien und menschliche Ingenieure dasselbe Problem auf ähnliche Weise gelöst haben (ScienceDaily 2008).

Wie bereits David J. DeRosier vor 10 Jahren bemerkte, ähnelt kein anderer Antrieb in der Natur einem durch Menschen konstruierten Motor derart wie der der Bakterien (DeRosier 1998). Die neu entdeckte Kupplung verstärkt diesen Eindruck.

Wenn man solche molekularen Maschinen auf einen intelligenten Urheber zurückführt, bekommen diese technisch-konstruktiv wirkenden Befunde einen plausiblen Erklärungsrahmen. Zukünftige Forschung wird zeigen müssen, ob sich die ursprüngliche Entstehung dieses „designed“ wirkenden Bakterien-Antriebs einer Erklärung durch ungerichtete Makroevolutionsprozesse entzieht.

K-U. Kolrep

[Bickel (2006) Nanomotoren in Natur und Technik. www.lehrer-online.de/nanomotoren.php... (Zugriff am 7. 4. 2009); Blair et al. (2008) A Molecular Clutch Disables Flagella in the Bacillus subtilis Biofilm. Science 320, 1636-1638; DeRosier DJ (1998) The turn of the screw: the bacterial flagellar motor. Cell 93, 17; ScienceDaily, Microscopic ‘Clutch’ Puts Flagellum In Neutral. www.sciencedaily.com/releases/2008/06/080619142109.htm (Zugriff am 23. 6. 2008); Szewzyk U & R (2003) Biofilme – die etwas andere Lebensweise, BIOspektrum 9 (3).]


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Kulturelle Überlieferungen belegen, dass Krankheiten bereits sehr früh in der Geschichte der Menschheit als Begleiterscheinung auftreten. Eine Diagnose an den Überresten früher Menschen ist nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Moderne Methoden der molekularen Paläontologie eröffnen erste Zugänge zu frühen Krankheitsbildern. Im folgenden werden zwei Beispiele aus jüngsten Publikationen referiert, wobei es sehr interessant ist, dass die molekularen Spuren von bakteriellen Infektionen nur minimale genetische Abweichungen von gegenwärtigen Erregern zeigen, was angesichts der bekannten Veränderbarkeit von Mikroorganismen auffällig ist.

Hinweise auf Skorbut an alten Knochen. Krankheiten, die auch das Skelett in Mitleidenschaft ziehen und dort krankhafte Veränderungen hervorrufen, können im Sinne einer Paläopathologie auch an Fossilien diagnostisch erfasst werden. Skorbut, eine durch Mangel an Vitamin C verursachte Krankheit (Avitaminose), ist die am längsten bekannte Avitaminose, die vor allem in der frühen Seefahrt aufgetreten ist. Möglicherweise haben auch viele andere Menschen aus älteren Kulturen an Skorbut gelitten, nachdem verschiedene Getreidearten angebaut und weniger wilde Früchte (mit vergleichsweise hohem Gehalt an Vitamin C) verzehrt wurden.

Wie Travis (2008) von einer Tagung berichtet, hat H. Koon aus der Arbeitsgruppe von M. Collins (s. Binder 2007) mit modernen analytischen Methoden Collagen an fossilen Skeletten untersucht. Collagen ist das häufigste Protein im menschlichen Körper und maßgeblich am Aufbau von Knochen beteiligt. Das Protein besteht aus ca. 1000 Aminosäuren, wovon sich drei Polypeptide zu Mikrofasern helixartig verdrillen und durch Kooperation mit weiteren Mikrofasern die Hauptkomponenten des Bindegewebes und der Knochen darstellen.

Die Anlagerung verschiedener Mikrofasern beruht vor allem auf der Aminosäure Prolin, die teilweise mit einer Hydroxylgruppe (-OH) modifiziert wird. Nun zeigt sich, dass einige Proline regelmäßig hydroxyliert werden, wohingegen andere nur gelegentlich mit einer OH-Gruppe versehen werden.

H. Koon hat nun an Meerschweinchen, die mit einer Vitamin C-armen Diät ernährt wurden, zeigen können, dass Mangel an Vitamin C zu einer signifikant geringeren Hydroxylierung an Prolin in Collagen führt. Erste Studien an Skeletten von dänischen Walfängern aus dem 17. und 18. Jahrhundert zeigen tatsächlich einen geringeren Hydroxylierungsgrad an Prolin. Weitere Studien, auf die man gespannt sein darf, sind im Gange. Fragmente von Collagen wurden auch bereits aus sehr viel älteren Dinosaurier-Fossilien (Untere Kreide) nachgewiesen (Binder 2007), werden aber derzeit noch kontrovers diskutiert (Asara & Schweitzer 2008, Asara et al. 2008, Buckley et al. 2008, Organ et al. 2008, Prevzner et al. 2008). In diesen vergleichsweise jungen Proben scheinen die Resultate wirklich belastbar zu sein.

[Asara JM & Schweitzer MH (2008) Response to Comment on: Protein Sequneces from Mastodon and Tyrannosaurus rex revealed by mass spectrometry. Science 319, 33d; Asara JM, Schweitzer MH, Cantley LC & Cottrell JS (2008) Response to Comment on: Protein Sequneces from Mastodon and Tyrannosaurus rex revealed by mass spectrometry. Science 321, 1040c; Binder H (2007) Proteine aus einem fossilen Oberschenkelknochen von Tyrannosaurus rex. Online-Publikation: www.genesisnet.info (News vom 22. 5. 2007); Buckley M et al. (2008) Protein Sequences from Mastodon and Tyrannosaurus rex revealed by mass spectrometry. Science 319, 33c; Organ CL, Schweitzer MH, Zheng W, Freimark LM, Cantley LC & Asara JM (2008) Molecular phylogenetics of Mastodon and Tyrannosaurus rex. Science 320, 499; Prevzner PA & Kim S (2008) Comment on: Protein Sequneces from Mastodon and Tyrannosaurus rex revealed by mass spectrometry. Science 321, 1040b; Travis J (2008) Old bones reveal new signs of Scurvy. Meetingbriefs: Third International Symposium on Biomolecular Archeology. Science 322, 368-369.]

Tuberkulose im Neolithikum – ältester direkter Nachweis. Tuberkulose gehört zu den großen weltweit verbreiteten Krankheiten. Nach Schätzungen sind ca. 2 Milliarden Menschen, d.h. ca. ein Drittel der Weltbevölkerung mit Tuberkulosebakterien infiziert. Die Erfahrung, dass nur etwa 10% der infizierten Personen auch Krankheitssymptome zeigen, wird üblicherweise als ein Hinweis auf eine lange Koexistenz zwischen dem Menschen als Wirt und bakteriellen Krankheitserregern interpretiert. Tuberkulose wird hauptsächlich durch Mycobacterium tuberculosis, aber auch durch andere Vertreter des so genannten Mycobacterium tuberculosis-Komplexes ausgelöst.

Im Zusammenhang mit Tuberkulose treten charakteristische Veränderungen am Skelett und an der Knochenstruktur auf. Solche typischen Merkmale sind auch an fossilen Funden diagnostizierbar. Die bisher ältesten Nachweise, die zusätzlich auch durch DNA-Analysen abgesichert werden konnten, stammen von Fossilien aus dem Neolithikum aus Ägypten (3500-2650 Jahre v. Chr.) und Schweden (3200-2300 Jahre vor Chr.). Anhand von morphologischen Befunden diskutieren Kappelman et al. (2008) anhand von Homo erectus-Fossilien aus der Türkei Hinweise auf Tuberkulose vor 490.000-510.000 radiometrischen Jahren.

Hershkovitz et al. (2008) haben jetzt menschliche Fossilien untersucht, die aus einer der ältesten bekannten Siedlung mit Hinweisen auf Ackerbau und Viehzucht stammen (vorkeramisches Neolithikum C): aus Atlit-Yam, heute 300-350 m vor der Küste bei Atlit, ca. 10 km südlich von Haifa in 8-12 m Wassertiefe im östlichen Mittelmeer gelegen. Radiometrische Datierung von Proben (kalibrierte 14C-Datierung) ergaben ein Alter von 9250-8160 Jahren. Die Fossilien sind in dunklen Ton eingebettet und werden nach der Bergung und vor der analytischen Untersuchung in Frischwassertanks gelagert, um die Salze herauszulösen. Zur Untersuchung herangezogen wurden eine Frau und ein Säugling, die gemeinsam bestattet worden waren und beide paläopathologische Hinweise auf Tuberkulose (die wahrscheinliche Todesursache von Mutter und Kind) zeigen. Anhand von Skelett- und Zahnmerkmalen wurde das Alter des Kindes mit ca. 12 Monaten und das der Mutter mit ca. 25 Jahren bestimmt. Aus Proben aus den Rippen der Frau und den Langknochen des Kindes konnten DNA-Fragmente gefunden werden, die dem M. tuberculosis-Komplex zugeordnet werden können.

Darüber hinaus konnten typische Lipidkomponenten (Mykolsäuren sind typische Membranbestandteile von Mycobakterien) bzw. deren Verteilungsmuster (Fingerprint) nachgewiesen werden.

Diese Befunde bestätigen die lange Koexistenz von Pathogen (Krankheitserreger) und Wirt und ebenso, dass das M. tuberculosis über diesen Zeitraum seine typische genetische Signatur beibehalten hat. Interessant ist weiterhin, dass – obwohl die Autoren den ausgezeichneten Erhaltungszustand der Fossilien aufgrund günstiger Lagerungsbedingungen betonen – nur DNA-Fragmente der Mycobakterien mit einer Länge von 92-135 bp mit PCR nachgewiesen werden konnten, aber keine von menschlichen Mikrosatelliten-DNA (das sind kurze DNA-Sequenzen von 2-4 bp, die unterschiedlich oft – 10 bis 100 mal – wiederholt werden und in der Sequenzanalyse ein wichtiges Merkmal sind). Damit bestätigen diese Untersuchungen die umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen beim Nachweis von menschlicher DNA aus älteren Proben. Die Autoren erklären die Fragmente mikrobieller DNA bei fehlender menschlicher DNA mit dem erhöhten GC-Gehalt der ersteren.

[Hershkovitz I, Donoghue HD, Minnikin DE, Besra GS, Lee OY-C, Gernaey AM, Galili E, Eshed V, Greenblatt CL, Lemma E, Bar-Gal GK & Spigelman M (2008) Detection and Molecular Characterization of 9000-Year-Old Mycobacterium tuberculosis from a Neolithic Settlement in the Eastern Mediterranean. PLoS ONE 3(10): e3426. doi:10.1371/journal.pone.0003426; Kappelman J, Alcicek MC, Kazanci N, Schultz M, Ozkul M & Sen S (2008) First Homo erectus from Turkey and implications for migrations into temperate Eurasia. Am. J. Phys. Anthropol. 135, 110-116.]

H. Binder

[Hershkovitz I, Donoghue HD, Minnikin DE, Besra GS, Lee OY-C, Gernaey AM, Galili E, Eshed V, Greenblatt CL, Lemma E, Bar-Gal GK & Spigelman M (2008) Detection and Molecular Characterization of 9000-Year-Old Mycobacterium tuberculosis from a Neolithic Settlement in the Eastern Mediterranean. PLoS ONE 3(10): e3426. doi:10.1371/journal.pone.0003426; Kappelman J, Alcicek MC, Kazanci N, Schultz M, Ozkul M & Sen S (2008) First Homo erectus from Turkey and implications for migrations into temperate Eurasia. Am. J. Phys. Anthropol. 135, 110-116.]


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Abb. 1: Die Spinne, die ein Rad schlagen kann: Cebrennus. (TU Berlin/Pressestelle, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Ingo Rechenberg, Professor für Bionik an der TU Berlin und Wüstenfan, hat bei einem seiner jüngsten Wüstenaufenthalte in der Sahara eine Spinne der Gattung Cebrennus (Abb. 1) entdeckt, die sich nicht nur spinnenüblich auf vier Beinpaaren fortbewegt. Diese zur Familie der Riesenkrabbenspinnen (Sparassidae) gehörende Art kann ihre Beine radartig formen und dann über den Wüstensand rollen. Dies kann sie nach bisherigen Beobachtungen nicht nur passiv – eine Düne hinab –, sondern sie kann sich auch aktiv radartig „rollend“ fortbewegen. Passive Rollbewegungen waren bereits von der zur selben Familie gehörenden Goldenen Radspinne (Carparachne aureoflava) aus der Namib-Wüste (Südwest Afrika) beschrieben. Ob es sich bei der von Rechenberg gefundenen Spinne um eine neue Spinnenart handelt, ist noch nicht geklärt.

Die Beantwortung der Frage, wer nun das Rad erfunden hat, ist durch diese Entdeckung nicht einfacher geworden, aber es hat sich wieder einmal gezeigt, dass in der Natur faszinierende Erscheinungen auftreten, die für die Ingenieurskunst eine Herausforderung darstellen. Rollende Fortbewegung kann unter bestimmten Randbedingungen eine vergleichsweise energiesparende Fortbewegungsweise sein.

Der Bioniker Rechenberg denkt bereits über Vehikel, die sich laufend und rollend fortbewegen können, nach, z.B. für den Einsatz auf dem Mars. Wieder einmal wurde in der Natur ein geniales Phänomen entdeckt, das zur Nachahmung herausfordert.

H. Binder

[www.pressestelle.tu-berlin.de/newsportal/ein-blick_fuer_journalisten/wer_hat_das_rad_erfunden (dort sind auch weitere Bilder und Videomaterial abgelegt); http://idw-online.de/pages/de/news287828]


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In der letzten Ausgabe von Studium Integrale Journal wurde über die Eidechsengattung Podarcis (Familie Lacertidae) berichtet (Heilig 2008). In einer vor wenigen Jahrzehnten auf einer kleinen Insel angesiedelten Population der Ruineneidechsen (P. sicula) waren bereits nach wenigen Generationen deutliche Anpassungen an die neue Umgebung beobachtet worden (Herrel et al. 2008). Aufgrund des neuen vegetarischen Speiseplans wurde eine Veränderung in Beißkraft und Schädelmorphologie etabliert. Eine neu aufgetauchte Struktur im Verdauungstrakt, welche den Weitertransport der schwerverdaulichen pflanzlichen Nahrung verlangsamte, wurde von den Autoren auf Makroevolution (Neukonstruktion) zurückgeführt. Heilig (2008) diskutiert aber auch Hinweise darauf, dass diese Struktur bereits in der Ausgangspopulation angelegt war und nicht neu entstand. Vergleichbare (homologe?) Strukturen tauchen etwa bei Podarcis lilfordi und der Lacertidae-Art Gallotia galloti auf (Herrel 2007). Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass alle drei Arten auf eine gemeinsame Stammpopulation zurückgehen, in welcher die genetische Information für diese Anpassung an eine bestimmte Ernährungssituation bereits latent enthalten war. Andernfalls müsste man konvergente Evolution annehmen. Nun lieferten Castilla et al. (2008) bereits den nächsten Beleg für rasch erfolgende Anpassung mit Bezug zur Ernährung der Gattung Podarcis. Ihre Resultate sollen im Folgenden kurz wiedergegeben werden.

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Abb. 1: Podarcis hispanica (Wikimedia, GNU Freie Dokumentationslizenz)

Die Spanische Mauereidechse (Podarcis hispanica, Abb. 1) ist, wie der Name vermuten lässt, in Spanien häufig anzutreffen und ernährt sich hauptsächlich von Insekten. Auf den spanischen Columbretes-Inseln lebt der endemische (nur dort vorkommende) Podarcis-Vertreter P. atrata, der längere Zeit als Unterart der Spanischen Mauereidechse (also als P. hispanica atrata) betrachtet wurde. Als in der letzten Eiszeit der Meeresspiegel um 120 m sank, fiel der Kanal zwischen Inseln und Festland trocken und P. atrata kolonisierte die Inselgruppe. Für die letzten 120 Jahre ist durch Beobachtungen sicher bekannt, dass die Eidechsen auf besagten Inseln mit dem Skorpion Buthus occitanus zusammenlebten. Skorpione kommen in trockenen Gegenden, die wenig Nahrung wie etwa Insekten bieten, überdurchschnittlich häufig vor. Auf den genannten Inseln erreichen sie eine Dichte von 0,7 Individuen pro Quadratmeter. Daher schienen die Skorpione eine potentielle Beute für die Eidechsen darzustellen und die Forscher fragten sich, ob P. atrata gelernt hätte, Jagd auf die Skorpione zu machen. Hinzu kommt, dass aufgrund der großen Skorpion-Dichte Begegnungen zwischen den beiden Arten in ihren Lebensräumen praktisch unvermeidbar (etwa bei denselben Zufluchtsorten vor Unwetter) sind, während es auf dem Festland nur selten zu Konfrontationen kommen dürfte. Hat sich dadurch eine neue Verhaltensweise gegenüber B. occitanus eingestellt?

Castilla und Mitarbeiter gingen dieser Frage nach, indem sie mit Skorpionen nach Eidechsen „angelten“ und beobachteten, wie die Reptilien auf die am Faden präsentierte potentielle Beute reagierten: Ignorierten sie den Skorpion, flohen sie vor ihm, oder versuchten sie ihn zu attackieren? Besonders bei den Männchen zeigen sich deutliche Unterschiede in den Verhaltensweisen zwischen den Land- und den Inselnbewohnern: Während auf dem Festland 73% flohen und keine von 15 männlichen Eidechsen (und auch keine der 15 weiblichen) versuchte, den Skorpion zu erwischen, flohen auf „Columbrete Grande“ nur 10% der Männchen, während 50% zum Angriff übergingen. Da Eidechsen durchaus auch zum Speiseplan von Skorpionen gehören, spekulieren die Autoren darüber hinausgehend über die Evolution von Abwehrmechanismen bei P. atrata und postulieren, dass diese das Gift (in nicht näher angegebener Dosis) tolerieren können. Sie schließen aber auch nicht aus, dass P. atrata (zusätzlich) gelernt haben könnte, die Skorpione so zu jagen, dass sie dabei nicht gestochen werden.

Bemerkenswert ist der Zeitrahmen, den die Autoren für all diese Veränderungen veranschlagen. Zwar genügten 100 Jahre nicht, um zwischen P. atrata und P. hispanica Unterschiede im Verhalten gegenüber der Bedrohung durch eine Schlange zu evolvieren (Van Damme & Castilla 1996), aber Ergebnisse wie die eingangs genannten von Herrel et al. (2008) belegen in den Augen von Castilla et al. (2008) rapide Anpassungen von Eidechsen bei veränderten Umweltbedingungen. Obwohl nicht bekannt ist, wie lange die Eidechsen mit den Skorpionen bereits gemeinsam auf den Inseln vorkommen, meinen die Castilla et al. (2008) daher, 100 Jahre sollten genügen. Diese Offenheit für rasant ablaufende mikroevolutive Prozesse war bisher nicht üblich.

Ch. Heilig

[Castilla AM, Herrel A & Grosá A (2008) Mainland versus island differences in behaviour of Podarcis lizards confronted with dangerous prey: the scorpion Buthus occitanus. J. Nat. Hist. 42, 2331-2342; Heilig C (2008) Ruineneidechsen: Makroevolution oder Polyvalenz? Rapide Anpassung, Makroevolution und Hinweise auf programmierte Variabilität bei Podarcis sicula (Sauria: Lacertidae). Stud. Int. J. 15, 76-88; Herrel A (2007) Herbivory and foraging mode in lizards. In: Reilly SM, McBrayer LD & Miles DB (eds) Lizard Ecology: The evolutionary consequences of foraging mode. Cambridge, 209-236; Herrel A, Huyghe K, Vanhooydonk B, Backeljau T, Breugelmans K, Grabac I, Van Damme R & Castilla AM (1996) Chemosensory predator recognition in the lizard Podarcis hispanica: effects of predator pressure relaxation. J. Chem. Ecol. 22, 13-22; Van Damme R & Irschick DJ (2008) Rapid large-scale evolutionary divergence in morphology and performance associated with exploitation of different dietary resource. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 105, 4792-4795.]


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Ein großes evolutionstheoretisches Problem in der Paläontologie stellt das explosionsartige Auftauchen differenzierter Stämme vielzelliger Tiere im Fossilbericht dar. Diese sogenannte „Kambrische Explosion“ soll vor 530 Millionen Jahren stattgefunden haben und erstreckte sich über eine Dauer von nur 5-10 Millionen Jahren (Bowring et al. 1993; vgl. Fritzsche 2001). Wie es zur plötzlichen Entstehung der zahlreichen Baupläne in diesem für geologische Verhältnisse extrem kurzen Zeitraum (0,11% der Erdgeschichte) kam, ist ein Rätsel. Um das Erklärungsproblem zu entschärfen, wird angenommen, dass schon vor dem unterkambrischen Erscheinen der Körperfossilien eine große Vielfalt an Tieren existierte. Als wichtigste Belege für diese These gelten Spuren aus dem Präkambrium, weil man annimmt, diese könnten nur von Bilateriern (Gewebetiere mit zwei spiegelbildlichen Hälften) verursacht worden sein. Solche langen, geschwungenen Spuren wurden auch in der Stirling-Formation im Westen Australiens gefunden und auf bis 1,8 Milliarden Jahre datiert. Dem Evolutionsparadigma zufolge soll es zu dieser Zeit aber noch keine mehrzelligen Tiere als Verursacher gegeben haben (Matz et al. 2008, 3).

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Abb. 1: Gromia sphaerica, von Sediment befreit. (Foto: M: Matz, NOAA, Harbor Branch Oceanographic Institute, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Strukturen, die denen im Präkambrium ähneln, fanden Matz und Mitarbeiter bei Forschungstauchgängen nahe den Bahama-Inseln, südöstlich der USA. Auf dem Meeresboden in 750 bis 780 Metern Tiefe entdeckten sie 50 cm lange Rillen, an deren Enden sich jeweils ein traubenförmiges, dunkelgrünes Objekt mit einem Durchmesser von 3 cm befand. Untersuchungen ergaben, dass die „Trauben“ einer Gruppe eukaryotischer Einzeller mit Scheinfüßchen (Pseudopodien), den Rhizaria, angehören. Aufgrund ihres Gehäuses konnten sie der Gattung Gromia zugeordnet werden. Genauer wurden die riesigen Einzeller durch Sequenzanalysen der ribosomalen RNA und phylogenetische Auswertungen identifiziert: Es handelt sich um die Art Gromia sphaerica, welche bisher nur aus dem Arabischen Meer bekannt war.

Die zu den G. sphaerica-Vertretern hinführenden Rillen verlaufen in alle möglichen (auch entgegengesetzten) Richtungen und sogar an Böschungen aufwärts. Deshalb schließen die Autoren Ursachen wie Strömung und Sedimentbewegung für die Spuren aus und folgern, ohne dies direkt beobachtet zu haben, dass die Furchen durch die aktive Fortbewegung der Einzeller entstanden sein müssen. Es handelt sich hier um den ersten Hinweis, dass auch Einzeller fossilisierbare Spuren produzieren können. Daraus ergibt sich eine mögliche Neubewertung der Spurenfossilien als Argument für das Vorkommen von Bilateriern im Präkambrium. Werden die präkambrischen Spuren statt mehrzelligen Tieren makroskopischen Einzellern zugerechnet, dann fehlt ein wichtiger Beleg dafür, dass schon vor dem Kambrium Zweiseitentiere (Bilateria) gelebt haben. Eine Entschärfung der Kambrischen Explosion würde damit deutlich erschwert.

Doch gab es Gromia-ähnliche Lebewesen vor dem Kambrium, die als Verursacher der fossilen Spuren in Frage kämen? Nach molekularen Daten erfuhren Gromia-ähnliche Protisten vor 1 Milliarde Jahren eine große Radiation, wobei sich auch die Foraminiferen entwickelt haben (Pawlowski et al. 2003). Gromia-ähnliche Einzeller müsste es also schon vor diesem Ereignis gegeben haben. In der bereits erwähnten Stirling-Formation entdeckte man Abdrücke von „kugelförmigen oder knolligen [...] Körpern“, die auch hinsichtlich ihrer Größe mit der mobilen Gromia übereinstimmen. Folgt man diesen Hinweisen, so wären Gromiden die ultimativen, makroskopischen „Lebenden Fossilien“ – „morphologisch unverändert seit 1,8 Milliarden Jahren“ (Matz et al. 2008, 4).

Mit den Befunden von Matz et al. ändert sich auch die Beurteilung der umstrittenen präkambrischen Ediacara-Fauna, deren Vertreter von Seilacher (1988/1992) als makroskopische Einzeller interpretiert wurden. Von den meisten Forschern wird diese Deutung jedoch abgelehnt, da ein riesiger Einzellerkörper als unvereinbar mit der angenommenen Mobilität von manchen Ediacara-Vertretern gilt (Ivantsov 2001; Ivantsov & Malakhovskava 2002). Matz et al. (2008) belegen nun, dass großes Körpervolumen und aktive Bewegung keine Widersprüche sein müssen. Auch in anderen strukturellen Eigenschaften untersuchter Gromia-Vertreter sehen sie Belege für Seilachers These.

T. Haller

[Bowring SA, Grotzinger JP, Isachsen CE, Knoll AH, Pelechaty SM & Kolosov P (1993) Calibrating Rates of Early Cambrian Evolution. Science 261, 1293-1298; Fritzsche T (2001) Millionenverluste: Das Kambrium schrumpft. Stud. Int. J. 8, 22-27; Ivantsov AY (2001) Traces of active moving of the large late Vendian Metazoa over the sediment surface. In: Ponomarenko AG, Rozanoy AY & Fedinkin MA (eds) Ecosystem Restructure and the Evolution of the Biosphere 4. Moskau; Ivantsov AY & Malakhovskava YE (2002) Giant traces of Vendian animals. Dokl. Akad. Nauk 385, 618-622; Matz MV, Frank TM & Justin N (2008) Giant Deep-Sea Protist Produces Bilaterian-like Traces. Curr. Biol. 18, 1-6; Pawlowski J, Holzmann M, Berney C, Fahrni J, Gooday AJ, Cedhagen, T, Habura A & Bowser SS (2003) The evolution of early Foraminifera. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 100, 11494-11498; Seilacher A (1988) Vendozoa: Organismic construction in the Proterozoic biosphere. Lethaia 22, 229-239; Seilacher A (1992) Vendobionta als Alternative zu den Vielzellern. Mitt. hamb. zool. Mus. Inst. 89, 9-20.]


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Wissenschaftliche Erkenntnis ist immer vorläufig und kann durch neue Ergebnisse schnell hinfällig werden. Dies gilt in besonderer Weise für spekulative Hypothesen der historischen Wissenschaften. Möglicherweise bahnt sich das bereits für Aussagen an, die sich auf Schlussfolgerungen beziehen, über die Theresa Haller im vorangehenden Beitrag berichtet. Matz et al. (2008) hatten eine neue Deutungsmöglichkeit für präkambrische Spurenfossilien vorgestellt, die bisher als wichtiges Argument für die Existenz komplexer Zweiseitentiere (Bilateria) vor dem Kambrium gewertet wurden und belegen sollten, dass die „Kambrische Explosion“ gar nicht so explosiv gewesen müsse. Die Autoren beobachteten, dass riesige Einzeller auf dem Boden heutiger Meere Spuren hinterlassen können, welche in ihrer rinnenartigen Form an die besagten Fossilien aus dem Präkambrium erinnern. Mikhail Matz meinte auf der Grundlage dieser Ergebnisse: „Ich persönlich denke nun, dass das gesamte Präkambrium möglicherweise ausschließlich von Protisten beherrscht wurde“ (zitiert bei Anonymus 2008a).

Eine weitreichende Spekulation! Sie könnte sich nun jedoch als falsch herauszustellen: Ein Fund von Loren Babcock, dem ein Alter von 570 Millionen Jahren zugeschrieben wird, weist Spuren auf, die aussehen, als seien sie von einem mehrfüßigen Tier erzeugt worden. Damit verlegt der Fund die Existenz lauffähiger Meerestiere um gut 30 Millionen Jahre nach gängiger Datierung zurück, hinein ins Ediacarium. Die Entdecker mutmaßen, bei diesem Tier könne es sich um einen mit Beinen ausgestatteten Wurm, einen Hundertfüßer oder einen Doppelfüßer gehandelt haben (Daily Mail Reporter 2008). Wobei hier kritisch anzumerken ist, dass die Doppelfüßer auf dem Land leben und ihre vielen Gliedmaßen kaum geeignet erscheinen, um ein solches Muster regelmäßiger und recht weit voneinander getrennter Punkte zu produzieren, wie Matz in persönlicher Kommunikation betont. Er würde auf einen Lobopoden wie Hallucigenia tippen. Doch auch für einen solchen Verursacher seien die Spuren ungewöhnlich regelmäßig und rund.

Matz selbst, der den Fund mir gegenüber als „fantastisch“ bezeichnete, meinte: Sollte sich Babcocks Deutung eines biologischen Ursprungs des Fossils und dessen Datierung bestätigen lassen, so würde dies tatsächlich sein eigenes – wohlweislich nicht in die Originalpublikation aufgenommenes – Statement zur präkambrischen Fauna (s. o.) widerlegen. Die wissenschaftsinterne Diskussion wird zeigen, wie belastbar der Fund ist. Auch Babcock erwartet angesichts des spektakulären Charakters des Fundes Skepsis von Kollegen und hält diese auch für angebracht, ist sich jedoch „ziemlich sicher – aber nicht zu 100%“, dass das Fossil von einem hundertfüßerartigen Arthropoden oder einem Wurm mit Beinen verursacht wurde (Anonymus 2008b). Der Fund eines entsprechenden Körperfossils könnte mehr Licht ins Dunkel bringen.

Bisher wurde lediglich ein Poster vorgestellt, dem jedoch schon einige technischen Details über das Fossil zu entnehmen sind (Ahn et al. 2008). Eine Publikation in der Fachliteratur steht noch aus.

In Studium Integrale Journal werden zum einen Versuche, Evolutionsabläufe mit Plausibilität auszustatten, kritisch hinterfragt. Dazu zählt auch die Bewertung von Argumenten, mit denen die im Rahmen des Evolutionsparadigmas angenommene plötzliche Entstehung der Tierstämme entschärft werden soll. Zum anderen sollen aber auch Alternativen entwickelt werden. Geht man nicht von einer evolutiven, sondern von einer ökologischen Ursache für die Fossilabfolge der höheren Organismengruppen aus (Stephan 2002; Heilig 2009), dann vertritt man selbst (wie die kritisierten Evolutions-Vertreter) eine Existenz der Tiergruppen bereits vor ihrer fossilen Überlieferung. Im ökologischen Interpretationsrahmen ist das vereinzelte Auftreten von Spur- (oder auch Körper-)fossilien vor der eigentlichen Radiation der Tiergruppe durchaus zu erwarten, auch wenn dies die evolutionskritische Argumentation schwächt.

Ch. Heilig

[Ahn SY, Babcock LE, Rees MN & Hollingsworth JS (2008) Body and Trace Fossils from the Deep Spring Formation (Ediacaran), Western Nevada. Geological Society of America (Abstracts with Programs) 40, 143; Anonymus (2008a) Discovery provides new perspective on animal evolution. Science Centric, Newsmeldung vom 5. Dezember: www.sciencecentric.com/news/article.php?q=08120530-discovery-provides-new-perspective-on-animal-evolution. Letzter Zugriff: 3. 2. 2009; Anonymus (2008b) 570 Million Year Old Tracks In Nevada Are Earliest Animal Footprints Ever Found. Scientifblogging, Meldung vom 05. Oktober: www.scientificblogging.com/news_releases/570_million_year_old_tracks_in_nevada_are_earliest_animal_footprints_ever_found. Letzter Zugriff: 3. 2. 2009; Daily Mail Reporter (2008) Earliest animal footprints ever show creatures walked the earth 570 million years ago. Daily Mail, Meldung vom 7. Oktober: www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-1069605/Earliest-animal-footprints-creatures-walked-Earth-570million-years-ago.html. Letzter Zugriff: 3. 2. 2009; Heilig C (2009) Ursachen fossiler Muster. Vergleich von phylogenetischer und ökologischer Deutung am Beispiel des Komplexitätsgewinns der Krebstiere (Crustacea). Stud. Int. J. 16, 22-35; Matz MV, Frank TM & Justin N (2008) Giant Deep-Sea Protist Produces Bilaterian-like Traces. Current Biology 18, 1-6; Stephan M (2002) Der Mensch und die geologische Zeittafel. Warum kommen Menschenfossilien nur in den obersten geologischen Schichten vor? Holzgerlingen.]


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Abb. 1: Nachbildung des rekonstruierten Skeletts im Fernbank Museum of Natural History in Atlanta (USA). (Wikipedia, Creative Commons)

Die Echsenbeckensaurier (Saurischia) bilden neben den Vogelbeckensauriern (Ornithischia) in der klassischen Systematik eine der beiden Ordnungen der Dinosaurier. Die Saurischier werden in die sich auf zwei Beinen fortbewegenden, überwiegend fleischfressenden Theropoden und die vierfüßigen, pflanzenfressenden Sauropodomorpha oder Sauropoden eingeteilt. Letztere brachten die größten Landtiere hervor, die jemals die Erde bewohnten. Ihre ersten Fossilfunde stammen aus der späten Trias vor 230 Millionen Jahren (nach radiometrischen Datierungen) und sie beherrschten die Erde 100 Millionen Jahre lang – und damit doppelt solange wie pflanzenfressende Säugetiere – vom mittleren Jura bis zum Ende der Kreidezeit.

Diese lange Zeit der Vorherrschaft ist um so erstaunlicher, als die ökologischen Bedingungen im Mesozoikum (Erdmittelalter, 250 bis 65 Millionen Jahre vor heute) sehr wahrscheinlich ungünstiger waren als heute: So enthielt die Atmosphäre weniger Sauerstoff, die Temperatur, die Größe der Landmassen und die atmosphärische CO2-Konzentration variierten wesentlich stärker als im Känozoikum (Erdneuzeit). Während ihrer Existenz erscheinen die bedecktsamigen Blütenpflanzen (Angiospermen) im Fossilbericht. Trotzdem zeigen die Fossilien keine Größenveränderungen der riesenhaften Sauropoden-Arten: Sie erreichten Körpermassen von 40 bis 100 Tonnen, Körperlängen von mehr als 40 m und Körperhöhen von mehr als 17 m – im Tierreich einzigartige Werte, die die nächstgrößten Landsäugetiere um eine Größenordnung übertreffen. Sauropoden wie Brachiosaurus oder Argentinosaurus (Abb. 1) besaßen einen elefantenartigen Körper mit vier Säulenbeinen und einem langem Schwanz und Hals, der in einem kleinen Schädel endete.

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Abb. 2: „Altertümliche“ und „moderne“ Merkmale bei Sauropoden. (Nach Sander & Clauss 2008)

Sander & Clauss (2008) von der Universität Bonn untersuchten, was diesen Gigantismus ermöglichte. Sie fanden eine Kombination aus „altertümlichen“ und „modernen“ Merkmalen (Abb. 2). Im Gegensatz zu Säugetieren und „fortschrittlicheren“ Ornithischia zerkauten sie ihre Nahrung nicht. Dies ermöglichte die geringe Schädelgröße und den langen Hals. Da die Darmkapazität mit der Körpermasse ansteigt, genügte die enorme Darmlänge zum Verdauen der Nahrung selbst bei Aufnahme großer Mengen an Pflanzennahrung, ohne vorheriges Zerkauen durch einen entsprechend gewichtigen Schädel. Ihr langer Hals erlaubte ihnen in Höhen zu fressen, die Konkurrenten unzugänglich waren und ohne sich viel energieaufwändig bewegen zu müssen. Ihr großer Körper glich zugleich die Verwundbarkeit des langen Halses aus. Ein langer Hals vergrößert allerdings den ventilatorischen Totraum jedes Atemzuges; die Sauropoden besaßen als Ausgleich eine „moderne“ vogelartige Lunge mit doppeltem Gasaustausch und Luftsäcken in Hals und Lunge – eine beachtliche Konvergenz! (Die Vögel werden nicht von dieser Gruppe abgeleitet.) Die Lunge ermöglichte auch die Abfuhr überschüssiger Körperwärme.

Damit die gewaltige Körpergröße einen Selektionsvorteil bot (übrigens auch bei Klimaschwankungen), musste sie rasch erreicht werden. Die viele Eier legenden Saurier wogen beim Schlüpfen etwa 10 kg. (Zahlreiche Eier pro Gelege gelten als weiteres „Primitivmerkmal“.) Knochengewebsuntersuchungen zeigten, dass dieses Wachstum mit einer den Säugetieren vergleichbaren Geschwindigkeit und damit auch vergleichbaren Stoffwechselrate einherging. Bei ausgewachsenen Sauropoden hätte eine solch hohe Stoffwechselaktivität zu Nahrungs- und Überhitzungsproblemen geführt, weswegen Sander & Clauss – gestützt auf weitere Fachliteratur – annehmen, dass diese Aktivität mit zunehmendem Alter abnahm. Das Legen vieler Eier ermöglicht anders als bei Säugetieren die rasche Erneuerung einer Population nach größeren Sterbeereignissen und soll damit zu ihrer langen Vorherrschaft beigetragen haben. Die ausgeprägte Kombination von sogenannten „altertümlichen“ und „modernen“ Merkmalen dieser Gruppe (Abb. 2) ist für evolutionstheoretische Rekonstruktionen eine Herausforderung.

W. B. Lindemann

[Sander PM & Clauss M (2008) Sauropod Gigantism. Science 322, 200-201; Forschungseinheit 533 der DFG (online support): www.sauropod-dinosaurs.uni-bonn.de]


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In Studium Integrale Journal erschien im Oktober 2007 ein Artikel von Imming & Bertsch, der mehrere zuvor publizierte Arbeiten von Trevors, Abel, Voie und anderen umfassend rezensierte und kommentierte. Jene Aufsätze in verschiedenen anerkannten Journalen der Biochemie und Molekularbiologie hatten zum Ausdruck gebracht, dass die erstmalige Entstehung lebender Zellen nicht allein durch Zufall und Notwendigkeit erklärbar sei und die Biologie völlig anderer Denkansätze bedürfe, wenn sie der Beantwortung ihrer Ursprungsfragen näher kommen wolle. Tendenzen zur aktiven Unterstützung der „Intelligent Design“ Bewegung waren in den Publikationen nicht erkennbar. Ein ausdrückliches Ziel schien vielmehr zu sein, solche Bestrebungen durch neue biologische Erkenntnisse abzuwehren.

David Abel von der Origin of Life Foundation (Greenbelt, Maryland, USA) hat nun wiederum – dieses Mal im International Journal of Molecular Sciences – einen Artikel über ein ähnliches Thema veröffentlicht. Seine Schlussfolgerungen sind dieselben wie zuvor. Wir möchten an dieser Stelle keine ausführliche Rezension vorlegen, sondern nur den Inhalt grob wiedergeben und den Leser auf die Originalliteratur verweisen. Der Artikel von Abel nimmt seinerseits Bezug auf über 300 Publikationen, die zu einem erheblichen Teil erst in den letzten Jahren erschienen sind.

Abel erörtert zunächst bekannte Definitionen der Begriffe Komplexität, Ordnung und Struktur sowie deren Anwendung auf biologische Fragestellungen. Für einige dieser Begriffsbildungen ist die Informationstheorie von Shannon eine wichtige Grundlage, die um zusätzliche Aspekte wie etwa ein quantitatives Maß der Funktionalität von Sequenzen erweitert werden kann. Interessant – jedoch nicht neu – ist dabei, dass Ordnung als das Gegenteil von Komplexität aufgefasst werden kann. Weder Ordnung noch Komplexität garantieren allerdings so etwas wie Selbst-Organisation. Diese hat ganz andere Qualität.

„Organisation ist ungleich Ordnung. Disorganisation ist ungleich Unordnung. Selbst-Ordnung erfolgt spontan und alltäglich in der Natur ohne jegliche Organisation. Spontane, echte Selbst-Organisation wurde andererseits nie beobachtet“ (Abel 2009, 269).

Der Autor vertritt die Auffassung, dass Tausende von Publikationen über angebliche Selbstorganisation eigentlich Selbstordnung erörtern und damit die oft direkt oder indirekt einbezogene biologische Fragestellung nach dem Ursprung selbstorganisierter Systeme nicht beantworten können. Ein interessantes Zitat aus dem vorletzten Abschnitt ist das folgende: „Die Natur (physicality) kann nichts planen. Die Natur kann nicht Nützlichkeit gegenüber Nutzlosigkeit vorziehen. Sie kann nicht einmal Funktion von Funktionslosigkeit unterscheiden. Physikalische Dynamik allein ist blind gegenüber Nützlichkeit; und ihr ist es egal, ob irgend etwas im formalen Sinne funktioniert“ (S. 275).

Abel ist der Meinung, dass die Fähigkeiten nicht-linearer dynamischer Modellsysteme wie Fraktale, natürliche Attraktoren, chaotische Systeme, komplexe adaptive Systeme und so weiter völlig überschätzt werden. Es gibt nach bisheriger Erkenntnis keinen rein natürlich ablaufenden physikochemischen Mechanismus, der „programmieren“, also optimale Algorithmen, konfigurierte Schalter und integrierte Schaltkreise erzeugen kann. Abel warnt vor metaphysischer Überhöhung, die aus einem gewissen Wunschdenken folgt, alles in seiner Entstehung „natürlich erklären“ zu wollen. Wir schließen uns dieser Warnung vor einer metaphysischen Überhöhung von Naturvorgängen an: Die Natur steht nicht über sich selbst als ihr Schöpfer.

Wir möchten hinzufügen, dass die Beschäftigung mit den Naturprozessen immer mehr und immer deutlicher auf einen außer ihr liegenden Ursprung und Grund verweist, den wir mit dem Gott der Bibel identifizieren.

Weitergehende Überlegungen zu diesen Fragen finden sich bereits in dem genannten Artikel von Studium Integrale Journal (Imming & Bertsch 2007).

E. Bertsch & P. Imming

[Abel DL (2009) The capabilities of chaos and complexity. Int. J. Mol. Sci. 10, 247-291; Abel DL, Trevors JT (2006) Self-organization vs. self-ordering events in life-origin models, Physics Life Rev., doi: 10.1016/j.plrev.2006.07.003; Dixon T (2001) A synthesis that failed, Science 294, 1467-1468; Imming P & Bertsch E (2007) „Zufall und Notwendigkeit erklären den Ursprung des Lebens nicht.“ Stud. Int. J. 14, 55-65; Voie ØA (2006) Biological function and the genetic code are interdependent. Chaos Solitons Fractals 28, 1000-1004.]


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Studium Integrale Journal 16. Jg. Heft 1 - Mai 2009