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Programmierte Mikroevolution bei Inselfinken?

von Wolfgang Lindemann

Studium Integrale Journal
14. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2007
Seite 85 - 88


Zusammenfassung: Einige Finkenvögel wurden von Südamerika auf zwei benachbarte Atlantikinseln verdriftet. Auf beiden Inseln gibt es ähnliche Lebensbedingungen und dementsprechend entwickelten sich auf beiden Inseln ähnliche Unterarten der ursprünglichen Finken. Es handelt sich um ein klassisches Beispiel eines Vorganges, der als Mikroevolution im Kurzzeitrahmen gedeutet werden kann.




Einleitung
Die Wilkins-Ammer auf einer Briefmarke

Finken standen Pate bei Darwins Evolutionstheorie und sind auch heute immer wieder für evolutionäre Überraschungen gut, wie Ryan et al. (2007) über Vögel des britischen Tristan da Cunha-Archipels berichten.

Abb. 1: A Die zum Tristan da Cunha Archipel gehörenden Inseln Inaccessible Island und Nightingale Island. B und C: die beiden prinzipiell möglichen Ursprünge der auf den Inseln endemischen Ammer-Arten: B Ausgehend von einer gemeinsamen Stammform erfolgte die Artaufspaltung außerhalb der Inseln in zwei getrennten Habitaten mit anschließender Verdriftung der neuen Arten auf die Inseln. C Ausgehend von einer auf die Inseln verdrifteten Stammform erfolgte die Artaufspaltung parallel auf beiden Inseln.

Dieses Archipel liegt im Südatlantik – es wird von St. Helena aus verwaltet, wo Napoleon bis zu seinem Tode interniert war, und besteht u.a. aus den unbewohnten Inseln „Inaccessible Island“ und „Nightingale Island“ (Abb. 1A). Dort sind, neben vier weiteren Vogelarten, die Wilkins-Ammer (Nesospiza wilkinsi) und die Acunha-Ammer (N. acunhae) endemisch, d. h. diese Arten kommen nur dort vor. Diese beiden Arten gehören, wie auch die Darwinfinken zur Ordnung Passeriformes, Sperlingsvögel. Gleichermaßen wie die Darwinfinken von Galápagos stammen sie von südamerikanischen Ahnen ab, die von den vorherrschenden Westwinden über 3000 km weit über den Ozean verdriftet wurden. Die Acunha-Ammer ist ein sehr häufig vorkommender Nahrungsgeneralist mit kleinem Schnabel, während die Wilkins-Ammer in geringer Anzahl vorkommt und mit ihrem großem Schnabel auf die harten verholzten Früchte der Baumart Phylica arborea spezialisiert ist.

Beide Ammer-Arten kommen auf beiden Inseln mit jeweils getrennten Unterarten vor: Auf der Nightingale Island die Wilkins-Ammer mit der Unterart Wilkins und die Acunha-Ammer mit der Unterart Questi, die sich in ihrer Größe deutlich unterscheiden (Abb. 2). Auf Inaccessible Island leben die Wilkins-Ammer mit der Unterart Dunnei und die Acunha-Ammer mit der Unterart Acunha. Nightingale Island ist eine relativ flache (<300m) Insel und die kleinere der beiden mit 2,6 km², deren vorherrschender Bewuchs aus dem Schlickgras Spartina arundinacea und vereinzelten Phylica arborea-Bäumen besteht. Inaccessible Island ist mit 10 km² größer und besitzt ein ausgedehntes Plateau von 300 bis 600m über dem Meeresspiegel. Das küstennahe Flachland wird ebenfalls von Spartina arundinacea und vereinzelten Phylica arborea-Bäumen besiedelt, es gibt aber noch zwei weitere Landschaftsformen: Das geschütztere östliche Plateau hat Waldland aus Phylica arborea, während auf dem angrenzenden höheren westlichen Plateau keine Phylica-Bäume wachsen, sondern der Baumfarn Blechnum palmiforme beherrschend ist. Diese größere Zahl von Lebensräumen spiegelt sich auch in einer größeren Vielfalt von Unterarten bei den Finken wieder, aber die Größenunterschiede sind aufgrund von Hybridisierungen auf dem östlichen Plateau geringer (Abb. 1A).

Die Schnabelgröße bei Finken ist stark genetisch bedingt und direkt korreliert mit der maximal möglichen zerbeißenden Kraft und damit der Größe der Samen, die die Vögel verwerten können. Das Grasland mit einzelnen Bäumen hat eine zweigipflige Verteilung der Samengröße, d.h. es gibt entweder kleine (Gras) oder große (Phylica) Samen, aber keine mit mittlerer Größe. Dies begünstigt die Entstehung von neuen Arten, die sich jeweils auf eine Samengröße spezialisieren. Eine solche vollständige Artbildung konnte auf Nightingale Island nachgewiesen werden: jede der beiden Arten Nesospiza wilkinsi questi und Nesospiza wilkinsi wilkinsi hat einen eigenen Gesang, verteidigt ihre Reviere nur gegen Artgenossen und es gibt keine Hinweise auf Hybridisierung. Im Küstenland von Inaccessible Island ist die Lage ähnlich: Von Nesospiza wilkinsi dunnei und Nesospiza acunhae acunhae wurde nur ein artlich gemischt verpaartes Vogelpaar beobachtet (<0,1% aller Paare) sowie einige Mischlinge von N. w. dunnei und N. a. acunhae. Auf dem westlichen Plateau gibt es, wie erwähnt, keine Phylica-Bäume mit großen Samen und folglich wenige großschnabelige Vögel. Schilfgras dominiert mit kleinen Samen als Spartina-Schlickgras, so dass die Entwicklung eines kleinschnabeligeren Vogels begünstigt wird (sogenannten „Lowland“ Acunha-Ammern) gegenüber den größeren „Upland“ Acunha-Ammern. Im östlichen Plateau dominieren großschnabelige Vögel besonders dort, wo es viele Phylica-Bäume gibt. Hier wurden nur Vögel mit Schnabellängen über 10,4 mm bei der Verwertung der Phylica-Früchte beobachtet. In den anderen Bereichen der Inseln treten Mischlinge auf, die kleinere Samen und Insekten verwerten.

Die im Vergleich kleinere Schnabelgröße der Wilkins-Ammer, Unterart Dunnei auf Inaccessible Island mit der Wilkins-Ammer, Unterart Wilkins auf Nightingale Island könnte entweder eine Anpassung auf die dort durchschnittlich kleineren Früchte oder Folge der unvollständigen Arttrennung durch weiter stattfindende innerartliche Hybridisierung sein.

Abb. 2: A Körpergröße und Schnabellänge der verschiedenen Ammerarten: N. acunhae questi und N. wilkinsi leben auf Nightingale Island, die übrigen Arten auf Inaccessible Island. B Die Verteilung der Schnabelgröße (links) entspricht gut der Häufigkeit verschiedener Samengrößen (rechts). Die Inseln sind mit 212 beobachteten Pflanzenarten artenarm, so dass einzelne Futterpflanzen eine große Bedeutung erlangen können.
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Zwei denkbare Entstehungswege

Theoretisch könnte die auf den beiden Inseln vorhandene Artensituation auf zwei Weisen entstanden sein (Abb. 1B und 1C): Die beiden Finkenarten entstanden jeweils anderswo an geographisch getrennten Orten (allopatrisch) und wurden dann auf die Inseln verdriftet, wo sie seitdem zusammen im selben Lebensraum, d.h. sympatrisch vorkommen. Oder sie könnten sympatrisch auf den Inseln selbst aus den erstmals dorthin verschlagenen Finkenvögeln entstanden sein.

Ryan und Mitarbeiter (2007) geben als die nächsten Verwandten der beiden Inselammern die Gattung Sicalis auf dem südamerikanischen Festland an und bieten folgende Argumente für eine sympatrische Entstehung der Arten bzw. Unterarten:

  • Die DNA-Sequenz des mitochondrialen Gens für Cytochrom B von 386 Individuen unterscheidet sich: Auf jeder der beiden Inseln bestehen zwei (fast) vollständig getrennte Linien. Nur ein Vogel von Nightingale Island besaß ein gemeinsames Allel mit Vögeln von Inaccessible Island. Dieser Vogel war größer als seine Artgenossen auf Nightingale Island, was nahelegt, dass er von Inaccessible Island verdriftet wurde. Dies war der einzige Fall einer feststellbaren möglichen Verdriftung zwischen den Inseln bei allen 925 untersuchten Vögeln.
  • Ein weiteres Argument betrifft Mikrosatelliten. Das sind Bereiche in der DNA, die nicht für ein Protein kodieren, sondern einfach in der z.T. hundertfachen Aneinanderreihung derselben Buchstabenabfolge bestehen. Die Anzahl der Wiederholungen unterscheidet sich zwischen Individuen verschiedener Gruppen. Bei 372 Vögeln wurden 7 verschiedene Mikrosatelliten untersucht. Die ermittelten Sequenz-Vergleiche von Mikrosatelliten-DNA sprechen für eine sympatrische Entstehung der Arten auf den Inseln.

Sympatrische Artbildung erfordert ein selektives Verpaaren der zunächst im gleichen Gebiet vorkommenden Individuen; die Vögel dürfen sich also nicht wahllos paaren. Wenn sich beispielsweise kleine Vögel bevorzugt mit anderen kleinen Vögeln verpaaren, und große mit großen, können sie sich dadurch in Unterarten auftrennen. Dies wird hier durch drei Faktoren gewährleistet: Jungvögel siedeln nahe ihrer Geburtsregion (niedrige Durchmischung), die Gefiederfärbung wird von der Nahrung bestimmt, die in den verschiedenen Habitaten variiert, und unterschiedliche Gesangsarten sind mit der Körpergröße korreliert: kleine Vögel haben schnellere, höherfrequente Gesänge. Da Gefiederfärbung und Gesangsstruktur die Partnerauswahl wesentlich bestimmen, kann es hier zu einer Aufspaltung kommen.1

Damit sind auf zwei benachbarten Inseln mit vergleichbaren Lebensräumen parallel aus denselben Vorfahren jeweils zwei neue, sehr ähnliche Biospezies entstanden. Offenbar wurde hier „vorprogrammiertes“ genetisches Potential abgerufen – ein schönes Beispiel für Design im Sinne von auf „Zukunft“ hin angelegter Variabilität. Es ist bereits bekannt, dass bei den Darwinfinken nur ein einzelner „Gen-Schalter“ die Schnabelgröße maßgeblich bestimmt: Je nachdem wo und wann das sogenannte Bmp4-Protein während der Embryonalentwicklung eingeschaltet wird, entstehen verschiedene Formen von Schnäbeln (lang und breit versus kurz und dick) und dieser Mechanismus ist auch für die Schnabelvariation bei 6 verschiedenen Darwinfinkenarten verantwortlich (Junker 2006, Wu et al 2004, Abzhanof et al 2004).

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Zeitlicher Rahmen

Ryan et al. datieren anhand eines Sequenzunterschiedes von 0,7% zwischen den Inaccessible- und Nightingale-Ammer-Arten im Cytochrom B-Gen deren letzten gemeinsamen Vorfahren auf 300 000 bis 400 000 Jahre vor heute. (Man geht bei Vögeln von einer genomischen Mutationsrate von 2% pro eine Million Jahre aus). Aber zum einen braucht es keine hunderttausende Jahre, um die Expression eines einzigen Gens zu ändern. Vielmehr gibt es genügend Beispiele für viel raschere Mikroevolution in verschiedensten Tiergruppen (z.B. Lindemann 2001) und sogar bei Finken (Lindemann 2002). Bei den schon genannten Darwinfinken genügte die Mutation eines einzigen Gens. Weiterhin geben Ryan et al. im online-support unter Berufung auf die Fachliteratur eine sehr niedrige Wanderungsrate von etwa 10–6 Migranten pro Jahr an – also ein Tier pro eine Million Jahre. Aber sie diskutieren nicht, warum sie offenbar gerade den einen Vogel gefunden haben, der pro eine Million Jahre von Insel zu Insel wandert. Die Befunde von Ryan lassen sich alternativ auch in einem kurzzeitigen Szenario deuten, denn schnelle Artbildungen sind in der Literatur zur Genüge berichtet worden.

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Anmerkung

1 Die 14 Darwinfinkenarten auf den Galapagosinseln stammen nach molekularen Stammbäumen, basierend auf dem Cytochrom b sowie aus der „control region“ der Mitochondrien auch von einer einzigen Ausgangsart ab (Sato et al. 1999).

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Literatur

Abzhanov A, Protas M, Grant BR, Grant PR & Tabin CJ (2004)
Bmp4 and morphological variations of beaks in Darwin’s finches. Science 305, 1462-1465.
Junker R (2006)
Schnabelvariation bei Darwinfinken: Nur ein Schalter. Stud. Int. J. 13, 50-51.
Lindemann W (2001)
Schnelle Artbildung ohne geographische Trennung bei Fruchtfliegen und Lachsen. Stud. Int. J. 8, 31-32.
Lindemann W (2002)
Rasche Mikroevolution bei Finken. Stud. Int. J. 9, 53.
Ryan PG, Bloomer P, Moloney CL, Grant TJ & Delport W (2007)
Ecological speciation in South Atlantic island finches. Science 315, 1420-1422 (9. März 2007) mit online-support www.sciencemag.org/cgi/content/full/315/ 5817/1420
Sato A, O’Huigin C, Figuera F, Grant PR, Grant BR, Tichy H & Klein J (1999)
Phylogeny of Darwin’s finches as revealed by mtDNA sequences. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 96, 5101-5106.
Wu P, Jiang TX, Suksaweang S, Widelitz RB & Chuong CM (2004)
Molecular shaping of the beak. Science 305, 1465-1468.

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