Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 13. Jg. Heft 2 - Oktober 2006
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Wissenschaftliche Kontroverse
über irreduzible Komplexität

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
13. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2006
Seite 94 - 95


Zusammenfassung: Eine der Standardbehauptungen in der aktuellen Diskussion um „Intelligent Design“ (ID) lautet, es gebe zu diesem Thema keinen Bedarf für eine wissenschaftliche Diskussion. Dennoch ist in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Science ein Artikel erschienen (Bridgham et al. 2006), der sich anhand naturwissenschaftlicher Befunde mit einem Hauptargument für ID auseinandersetzt, nämlich dem Konzept von „irreduzibler Komplexität“ (IC). Ein biologisches System ist irreduzibel (nicht reduzierbar) komplex, wenn es notwendigerweise aus mehreren fein aufeinander abgestimmten, miteinander wechselwirkenden Teilen besteht, die für eine bestimmte Funktion benötigt werden, so daß die Entfernung eines beliebigen Teils die Funktion des Systems restlos zerstört (Behe 1996; 2001). Ein solches System wird als „IC-System“ bezeichnet. Darauf kann ein sog. IC-Argument wie folgt aufgebaut werden: Es ist nicht möglich, ein IC-System schrittweise durch ungerichtete graduelle Prozesse aufzubauen.

Die Arbeit von Bridgham et al. wurde als so bedeutsam eingestuft, daß in derselben Science-Ausgabe auch ein Kommentar dazu von Christoph Adami erschien. Nachdem dieser Kommentator die Ergebnisse von Bridgham et al. erläutert hatte, kam er paradoxerweise zum Schluß: „Consequently, whatever debate remains must be characterized as purely political.“ Sein eigener Kommentar widerlegt dies jedoch, denn er geht auf das IC-Konzept und das IC-Argument mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Argumenten ein.

Adami behauptet, die Arbeit von Bridgham et al. habe gezeigt, wie ein IC-System durch evolutive Prozesse entstehen kann, nämlich durch eine Genduplikation und wenige Punktmutationen. Das IC-Argument sei damit widerlegt. Damit bestätigt Adami, daß mindestens in diesem Fall ein ID-Argument naturwissenschaftlich widerlegbar ist.


Inhalt
•  Was haben Bridgham et al. gezeigt?
•  Kritik
•  Fazit
•  Literatur


Was haben Bridgham et al. gezeigt?
Abb. 1: Überblick über die beschriebenen Evolutionsvorgänge. Die Balken symbolisieren Bindungsfähigkeit. VR Vorläufer-Rezeptor, GR Glucocorticoid-Rezeptor, MR Mineralocorticoid-Rezeptor. Näheres im Text.

Es geht um die Bindung von Hormonen an Rezeptorproteine. Solche Rezeptoren setzen Signalkaskaden in der Zelle durch die Bindung der Hormone an Rezeptoren in Gang. Dadurch werden spezifische physiologische Vorgänge ausgelöst. Die Ergebnisse der Experimente von Bridgham können in wenigen Sätzen beschrieben werden (nach Behe 2006): Die Autoren starteten ihre Experimente mit einem Rezeptorprotein, welches die Fähigkeit besaß, mit drei verschiedenen Steroidhormonen (Aldosteron, Cortisol and 11-Deoxycorticosteron [DOC]) stark wechselzuwirken. Durch Punktmutationen wechselwirkte dieses Protein viel schwächer mit diesen drei Steroiden. Eine bereits vorhandene Fähigkeit wurde also abgeschwächt. Soweit der nackte experimentelle Befund. Er belegt offenkundig in keiner Weise die Entstehung von IC und es stellt sich angesichts dieses Befundes die Frage, weshalb die Autoren und der Kommentator die evolutive Entstehung eines IC-Systems gezeigt haben wollen. Dazu muß etwas ausgeholt werden.

Die Autoren rekonstruierten einen hypothetischen Vorläufer-Rezeptor (VR), von dem zwei heute vorkommende Rezeptor-Typen evolviert sein sollen, nämlich der Glucocorticoid-Rezeptor (GR) und der Mineralocorticoid-Rezeptor (MR) (Abb. 1). MR und GR üben verschiedene Signalfunktionen aus (Bridgham et al. 2006, 97). Die heutigen Rezeptoren sollen durch eine Genduplikation (ein hypothetisches Ereignis; das Vorkommen von Genduplikationen ist aber grundsätzlich experimentell belegt) und durch Punktmutationen aus dem VR entstanden sein. Der künstlich hergestellte hypothetische VR kann wie das heutige MR die strukturell ähnlichen Hormone Aldosteron, Cortisol und DOC (s.o.) stark binden (vgl. Abb. 1 und 2). Zur Zeit, als der VR (auf unbekannte Weise) entstand (nämlich nach evolutionstheoretischen Vorstellungen vor 450 Millionen Jahren), gab es aber noch kein Aldosteron (dies wird indirekt durch vergleichende Studien an heutigen Organismen erschlossen und soll hier zugunsten des evolutionstheoretischen Arguments nicht problematisiert werden). Damit muß die Aldosteron-Affinität des VR damals ein Nebenprodukt der Affinität zu den anderen Steroidhormonen gewesen sein.

Durch zwei Aminosäureaustausche gelangte man nun vom VR ausgehend zum GR, der Cortisol und DOC, nicht aber Aldosteron binden kann.

Treten die beiden dazu erforderlichen Mutationen nacheinander auf, so führt dies entweder über eine Zwischenstation, in der der Rezeptor die drei Hormone gar nicht oder nur ganz schwach binden kann oder auf der er DOC und die anderen beiden Hormone nur schwach binden kann (in Abb. 2 rechts oben bzw. links unten). Die jeweils zweite Mutation führte dann zum heutigen GR, das die (in diesem Szenario erneute!) Fähigkeit besitzt, Cortisol (stärker) zu binden (während Aldosteron nach wie vor nicht mehr gebunden wird) (in Abb. 2 die Schritte nach rechts unten). Das andere Duplikat des VR wurde zum heutigen MR, das wie der VR alle drei Hormone binden kann.

Abb. 2: Dieses Bild zeigt links oben schematisch den hypothetischen Vorläufer-Rezeptor, der Aldosteron, Cortisol und DOC bindet. Die Mutation L111Q führt zum Verlust der Bindungsfähigkeit des Rezeptors (dargestellt durch Verformung der Bindungstasche). Die Mutation S106P führt dazu, dass Aldosteron und Cortisol nur noch sehr schwach gebunden werden können, während DOC unverändert gebunden werden kann. Beide Mutationen zusammen erlauben wieder eine starke Bindung von Cortisol; Aldosteron passt jedoch nach wie vor nicht mehr. (Nach Adami 2006)

Bridgham et al. heben hervor, daß die Aldosteron-Sensitivität des MR schon in seinem VR-Vorläufer vorhanden war, bevor es das Aldosteron überhaupt gab (s. o.). Der VR und seine Nachfolger waren also prädadptiert für eine Sensitivität für Aldosteron. Dieser (nur indirekt erschlossene!) Vorgang ist es, der von Bridgham et al. und Adami als Beleg für die Evolution einer IC-Struktur gewertet wird: „This evolutionary scenario – recruiting an ancient receptor into partnership with a novel ligand ...“ (Bridgham et al. 2006, 100).

Aus den vorstehenden Beschreibungen geht hervor (wie oben kurz dargestellt), daß die einzigen Vorgänge dieses Szenarios, die experimentell belegt sind, die Folgen der beiden beschriebenen Punktmutationen sind (wie in Abb. 2 gezeigt).

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Kritik

Gegen die Interpretation dieser Vorgänge als Belege für die evolutive Entstehung von IC gibt es schwerwiegende Einwände (die meisten Kritikpunkte im Folgenden nach Behe 2006):

1. Selbst wenn der Erwerb der Affinität des VR (bzw. späteren MR) zu Aldosteron ein zufällig passendes Nebenprodukt war (wie oben beschrieben), handelt es sich doch um ein strukturell ähnliches Molekül im Vergleich zu Cortisol und DOC.

2. Es handelt sich nach der Definition von Behe (s. o.) gar nicht um ein IC-System, da es nur aus einem einzigen Protein (Rezeptor) und seinem Liganden (dem Hormon) besteht. Das Rezeptor-Hormon-Paar ist dabei nur ein kleiner Teil einer Signalübertragungskaskade, die andere komplexe physiologische Prozesse reguliert. Rezeptor-Liganden-Paare besitzen für sich alleine selektierbare Funktionen (vgl. dazu auch Nelson 2006). Es wird also nur ein für sich alleine funktionsloser Teil eines IC-System betrachtet.

3. Im Experiment wurden weder neue Komponenten hinzugefügt noch alte entfernt.

4. Es wurde die schon vorhandene Fähigkeit eines Proteins, bestimmte (ähnliche) Moleküle zu binden, lediglich geschwächt. Die Experimente starteten mit einem Protein, welches mehrere strukturell sehr ähnliche Steroide stark binden kann und hatten als Ergebnis ein Protein, das zwei der Steroide höchstens 10mal schwächer binden konnte.

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Fazit

Von einem Erwerb einer IC-Struktur durch ungerichtete evolutive Prozesse kann in keiner Weise die Rede sein.

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Literatur

Adami C (2006)
Reducible Complexity. Science 312, 61-63.
Behe MJ (1996)
Darwin’s Black Box: the Biochemical Challenge to Evolution. New York.
Behe MJ (2001)
Reply to my critics: A response to reviews of Darwin’s Black Box: the Biochemical Challenge to Evolution. Biol. Philos. 16, 685-709.
Behe M (2006)
The Lamest Attempt Yet to Answer the Challenge Irreducible Complexity Poses for Darwinian Evolution. www.idthefuture.com/2006/04/the_lamest_attempt_yet_to_answ.html
Bridgham JT, Carroll SM & Thornton JW (2006)
Evolution of Hormone-Receptor Complexity by Molecular Exploitation. Science 312, 97-100.
Nelson P (2006)
How to Explain Irreducible Complexity – A Lab Manual (Step One; to be continued). www.idthefuture.com/2006/04/how_to_explain_irreducible_com_1.html

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