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Tiktaalik – ein erstklassiges Bindeglied?

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
13. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2006
Seite 88 - 91


Zusammenfassung: Das im Frühjahr 2006 in der Presse gefeierte Fischfossil Tiktaalik weist neben typischen fischartigen Eigenschaften auch eine Reihe von Merkmalen auf, die kennzeichnend für Tetrapoden (= Vierbeiner) sind. Der Fund paßt daher grob in einen Übergangsbereich Fische – Vierbeiner. Wie gut diese Passung ist, wird anhand einiger wichtiger Merkmale kritisch diskutiert. Alternative, nicht-evolutionäre Deutungsmöglichkeiten der Fossilabfolgen im Bereich Oberdevon/ Unterkarbon werden kurz betrachtet.




Einführung
Abb. 1: Tiktaalik roseae aus dem Oberdevon. (© Academy of Natural Sciences, Philadelphia, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Ted Daeschler)

Ein neues Bindeglied schickt sich an, Berühmtheit zu erlangen – Tiktaalik roseae, ein Fisch mit einigen Merkmalen, die typisch für Vierbeiner (Tetrapoden) sind. Anfang April wurde diese neue Fischgattung in zwei ausführlichen Artikeln in Nature beschrieben (Daeschler et al. 2006, Shubin et al. 2006). Überreste mehrerer Exemplare wurden in der kanadischen Arktis auf der Insel Ellesmere gefunden; geologisch gehören die Fundschichten zum untersten Oberdevon (Unterfrasne). Erhalten sind Schädel, Halsbereich, Schultergürtel, Brustflossen, Rippen und ein größerer Teil der Wirbelsäule (Abb. 1). Die Tiere waren ca. 1,2-2,7 m groß, hatten einen flachen Körper und einen krokodilähnlichen Kopf und waren mit ihren scharfen Zähnen vermutlich gefährliche Räuber. Erik Ahlberg und Jennifer Clack, zwei ausgewiesene Spezialisten für frühe Tetrapoden (Vierbeiner), halten es für möglich, daß der neue Fund eine ähnliche Bedeutung erlangen könnte wie der berühmte „Urvogel“ Archaeopteryx (Ahlberg & Clack 2006, 747), und Neil Shubin kreierte anläßlich dieses Fundes den Begriff „fishopod“. Der Gattungsname Tiktaalik entstammt der Sprache der Inuit (Eskimos) und bedeutet „großer Fisch aus seichtem Gewässer“ in Anlehnung an den mutmaßlichen Lebensraum (s. u.); den Artnamen roseae verdankt der Fund einem anonymen Sponsor.

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Was macht diesen Fund so interessant?

Tiktaalik weist eine ausgeprägte Kombination aus eindeutig fischtypischen Merkmalen und typischen Tetrapodenmerkmalen auf. Fischartig sind die großen Kiemenhöhlen, die ausgeprägten Flossenstrahlen, die Schuppenhaut, der Unterkiefer und der Gaumen. Dagegen sind das verkürzte Schädeldach, der flache Schädel mit nach oben gerichteten Augen, die Ohrregion, die Beweglichkeit der Halsregion, das Fehlen von Kiemendeckeln, der relativ kräftige Brustkorb mit überlappenden Rippen, der flache Körperbau und der Besitz eines Handgelenks Merkmale, die eher zu Tetrapoden hinweisen. Die Forscher schließen aus der Anatomie der Brustflossen, daß sie ähnlich gebeugt und gestreckt werden konnten wie die Gließmaßen der Landwirbeltiere. Damit war wahrscheinlich ein Kriechen auf dem Grund des Gewässers möglich, vermutlich auch ein Sich-Hochstemmen im Uferbereich und nach Meinung der Wissenschaftler auch kurze Landgänge. Kein Zweifel: Tiktaalik besitzt ein Merkmalsmosaik, das gut in einen Übergangsbereich zwischen Fischen und Vierbeinern paßt – hier geht ein Punkt an die Evolutionstheorie.

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Was nicht so gut paßt
Abb. 2: Panderichthys und Tiktaalik eignen sich kaum als Übergangsformen zwischen Eusthenopteron oder anderen Fleischflossern und Tetrapoden (Vierbeinern) wie Acanthostega, da der Bau der Flossen einer solchen Interpretation entgegensteht. Die mehrstrahlige Extremität der Tetrapoden gilt als evolutive Neuheit und taucht abrupt im Fossilbericht auf. Eine Homologisierung zwischen der viergliedrigen Tetrapodenextremität und Flossenknochen von Fischen ist insgesamt nach wie vor unsicher (vgl. dazu die Diskussion von Shubin et al. 2006). Einige Merkmale der Extremitäten von Tiktaalik ähneln Rhizodontiden wie Sauripterus; Shubin et al. (2006) halten sie für „wahrscheinlich homoplastisch“, also konvergent entstanden (d.h. kein Erbe eines gemeinsamen Vorfahren). (Nach Shubin et al. 2006 und Clack 2002)

Daß Merkmale von Tiktaalik besonders hervorgehoben werden, die als „Übergangsmerkmale“ gedeutet werden können, ist legitim. Dennoch zeigt die Brustflosse insgesamt doch eher einen fischartigen Charakter (Ahlberg & Clack 2006, 748). Ein Vergleich mit anderen Formen aus dem Übergangsbereich Fische – Vierbeiner macht dies deutlich. Bisher galt Panderichthys als tetrapodenähnlichster Fisch; dessen Flossen sind aber deutlich anders gebaut, ihrerseits aber nicht gut als Vorläufer für Tetrapodenextremitäten geeignet. Die Unterschiede zwischen Tiktaalik und gefingerten

Gattungen wie Acanthostega sind erheblich (Abb. 2). Ahlberg & Clack (2006, 748) weisen darauf hin, daß der Erwerb von Fingern, von Tiktaalik ausgehend, eine erhebliche Umorganisation („developmental repatterning“) erfordern würde. Der achtfingrige oberdevonische Tetrapode Acanthostega war höchstwahrscheinlich ausschließlich wasserlebend; seine Extremitäten waren relativ unbeweglich. Aus diesen Gründen eignet sich diese Gattung nicht als vermittelnde Form zwischen Tiktaalik und landlebenden Tetrapoden. Man kann es so sagen: Tiktaalik hatte deutlich andere „Übergangsmerkmale“ auf dem hypothetischen Weg zum Landleben als Acanthostega. Der Weg aufs Land konnte nicht über beide Formen zugleich führen, es sei denn, er wurde mindestens zweimal unabhängig durchlaufen, womit dann aber die Vierbeinigkeit nicht mehr als Schlüsselmerkmal (d. h. als Hinweis auf gemeinsame Vorfahren) gelten könnte, sondern konvergent entstanden wäre. Schon länger ist klar, daß auch das berühmte Ichthyostega, vor noch nicht langer Zeit die Ikone für den Übergang vom Wasser- zum Landleben, deutlich von einer vermittelnden Position entfernt ist (Clack 2002, Ahlberg et al. 2005; zusammenfassend Junker 2004; 2006).

Nicht nur der Bau der Flossen, sondern auch der Schädelbau paßt insgesamt nicht in eine Reihe von tetrapodenähnlichen Fischen hin zu frühen Tetrapoden. Auch in dieser Hinsicht würde sich Acanthostega auf einer anderen „Schiene“ bewegen, wenn man die relevanten fossilen Gattungen in evolutionäre Abfolgen einfügen wollte (Abb. 3).

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Lebensraum
Abb. 3: Schädel von Panderichthys, Tiktaalik und Acanthostega. (Nach Daeschler et al. 2006)

Die Deutung von Tiktaalik als evolutionäre Übergangsform muß mit einigen Unbekannten leben, da die hinteren Teile des Tieres fossil nicht überliefert sind. Über den Bau des Beckens, der Hinterextremitäten und des Schwanzes verraten die Funde leider nichts. Daher kann auch die Lebensweise nicht sicher rekonstruiert werden. (Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß lange gemutmaßt wurde, daß die Quastenflosser ihre kräftigen Flossen zur Bewegung auf dem Grund genutzt haben könnten, bis Filmaufnahmen des „lebenden Fossils“ Latimeria diese Vermutung widerlegten.) Wie alle anderen oberdevonischen Vierbeiner und vierbeinerähnlichen Gattungen ist auch Tiktaalik zusammen mit Fischen eingebettet worden (Daeschler et al. 2006, 758). Vermutlich war er ein Beutelauerer im Uferbereich; die lange Schnauze war zum Schnappen nach Beute geeignet, und die beweglichen Extremitäten und der relativ bewegliche Halsbereich erlaubten in diesem Lebensraum eine entsprechende Wendigkeit. Junker (2004) diskutiert für andere Gattungen, daß es in Uferbereichen eine Vielfalt ökologischer Nischen gegeben haben könnte, „darunter möglicherweise auch (damalige) Lebensräume, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Dieser Vielfalt könnte eine anatomische Formenfülle mit unterschiedlichen Konstruktions-Mosaiken des Kiemenapparats, der Extremitäten, der Wirbelsäule, des Schwanzes usw. entsprechen.“ In diesem Sinne kann möglicherweise auch Tiktaalik interpretiert werden, als Form, die für einen bestimmten (nicht mehr genau rekonstruierbaren Lebensraum) optimal konstruiert war.

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Übergang bisher schlecht belegt?

Etwas verwundert stellt man fest, daß Autoren und Kommentatoren Tiktaalik als langgesuchtes Bindeglied zwischen wasser- und landlebenden Wirbeltieren begrüßen. Hieß es nicht schon seit Jahrzehnten, die wesentlichen fossilen Belege für diesen Übergang seien gefunden worden? Nun aber schreiben Ahlberg & Clack, bis vor kurzem sei die morphologische Lücke „frustrierend weit“ geblieben – trotz Panderichthys, Acanthostega und Ichthyostega und anderen overdevonischen Tetrapoden-Gattungen. Ähnlich meinen auch Daeschler et al. (2006, 757), daß die Verwandtschaft zwischen Tetrapoden und Fleischflossern (Sarcopterygier) zwar gut begründet, der Ursprung der wichtigen Tetrapodenmerkmale jedoch im Dunkeln verblieben sei. Und Pennisi (2006) stellt in ihrem Kommentar in Science fest, daß die bislang bekannten Fossilien entweder vornehmlich fischartig oder tetrapodenartig waren statt wirklich intermediär zu sein. Offenbar erlaubt erst die verbesserte Datenlage, den bisherigen Stand des Wissens weniger geschönt darzustellen.

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Schlußfolgerungen und alternative Deutung

Zusammenfassend kann man sagen, daß Tiktaalik das Spektrum von Fischen mit tetrapodenartigen Merkmalen erweitert und in diesem Sinne einerseits einen Baustein für evolutionäre Übergangshypothesen darstellt. Die morphologische Lücke zwischen manchen Formen wird mit dem neuen Fund verkleinert. Andererseits wird nicht die Lücke zwischen den bisher nächststehenden fossilen Gattungen verkleinert (das wäre zwischen Panderichthys und Acanthostega), sondern im Übergangsbereich Wasser – Land eine neue Mosaikform hinzugefügt. Das Merkmalsmosaik von Tiktaalik paßt gut zu einem im Uferbereich lauernden Räuber. Ahlberg & Clack (2006, 748) schließen ihren Kommentar mit der Feststellung, daß fast nichts über den Schritt zwischen Tiktaalik und den frühesten Tetrapoden bekannt sei. Bei diesem Übergang habe die Anatomie die „dramatischsten Änderungen“ erfahren. Außerdem weisen sie auf die markante Lücke zu den karbonischen landlebenden Tetrapoden hin (dazu siehe zusammenfassend Junker 2005).

Eine Reihe evolutionstheoretischer Probleme wird mit dem neuen Fund nicht verkleinert (s. Clack 2002, 99-104, 129-138, zusammenfassend in Junker 2005). So sind die Selektionsdrücke, die zur Entstehung der Vierbeinigkeit bei den devonischen Formen geführt haben könnten, unklar. Es gibt einander widersprechende Argumente sowohl für eine Entstehung von Fingern und Tetrapodenextremität im Wasser als auch für deren Entstehung an Land, was ein sekundäres Wasserleben mancher Tetrapoden bedeuten würde. Die jeweiligen Argumente stellen beide Szenarien deutlich in Frage, woraus ein evolutionstheoretisches Dilemma folgt.

Die oberdevonischen/unterkarbonischen Formenabfolgen könnten anstelle eines evolutionstheoretischen Szenarios auch ökologische Zonierungen widerspiegeln. Oder es könnte sich um lokale Sukzessionen von Lebensgemeinschaften handeln, die jeweils durch Einwanderer aus anderen Gegenden abgelöst wurden, oder es handelt sich um eine komplexe Mischung aus beiden Aspekten (vgl. Milner et al. 1986). Diese nicht-evolutionären Szenarien lassen unterschiedliche, sich mehr oder weniger widersprechende Merkmalskombinationen durchaus erwarten. Man kann sogar auf dieser Basis die Vorhersage treffen, daß mit der Zunahme an Funden die Widersprüche der Merkmalsverteilungen zunehmen werden und in evolutionstheoretischen Szenarien in wachsendem Ausmaß Konvergenzen angenommen werden müssen.

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Literatur

Ahlberg PE & Clack JA (2006)
A firm step from water to land. Nature 440, 747-749.
Ahlberg PE, Clack JA & Blom H (2005)
The axial skeleton of the Devonian tetrapod Ichthyostega. Nature 437, 137-140.
Clack JA (2002)
Gaining Ground. The origin and evolution of Tetrapods. Bloomington and Indianapolis.
Ahlberg PE, Clack JA & Blom H (2005)
The axial skeleton of the Devonian tetrapod Ichthyostega. Nature 437, 137-140.
Daeschler EB, Shubin NH & Jenkins FA (2006)
A Devonian tetrapod-like fish and the evolution of the tetrapod body plan. Nature 440, 757-763.
Junker R (2004)
Vom Fisch zum Vierbeiner – eine neue Sicht zu einem berühmten Übergang. Teil 2: Ichthyostega, Acanthostega und andere Tetrapoden des höheren Oberdevons. Stud. Int. J. 11, 59-66.
Junker R (2005)
Vom Fisch zum Vierbeiner – eine neue Sicht zu einem berühmten Übergang. Teil 3: Tetrapoden des Unterkarbons, unklare Selektionsdrücke und evolutionstheoretische Probleme. Stud. Int. J. 12, 11-17.
Milner AR, Smithson TR, Milner AC, Coates MI & Rolfe WDI (1986)
The search for early tetrapods. Modern Geology 10, 1-28.
Pennisi E (2006)
Fossil shows an early fish (almost) out of water. Science 312, 33.
Shubin NH, Daeschler EB & Jenkins FA (2006)
The pectoral fin of Tiktaalik roseae and the origin of the tetrapod limb. Nature 440, 764-771.

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