Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 10. Jg. Heft 2 - September 2003
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Appendix – Das Ende eines rudimentären Organs

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
10. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2003
Seite 80 - 81

Der Wurmfortsatz (Appendix) des Blinddarms gilt als klassisches Beispiel für ein rudimentäres Organ, das im Laufe der hypothetischen Evolution funktionslos geworden sein soll. Entsprechend wird dieses Organ gerne als Beleg gegen Schöpfung gewertet; schließlich würde ein Schöpfer keine funktionslosen Organe erschaffen. Schon Charles DARWIN verwendete in Origin of Species dieses „Argument der Unvollkommenheit“: „Denken wir weiter über den Gegenstand nach, so erfaßt uns Verwunderung. Dieselbe Urteilskraft, die uns die meisten Teile und Organe als gewissen Zwecken vortrefflich angepaßt erkennen läßt, sagt uns nun ebenso überzeugend, daß rudimentäre oder atrophierte Organe unvollkommen und zwecklos sind“ (DARWIN 1967, S. 632). Wird aus dieser Einschätzung ein Argument gegen Schöpfung abgeleitet, kommt eine theologische Komponente dazu, da Annahmen über die Tätigkeit eines Schöpfers einfließen (dazu siehe JUNKER 2002, 69ff.).

Abb. 1: Der Wurmfortsatz ist gut durchblutet, was auf seine Funktionsfähgkeit hinweist. (Nach Murris 1991)

Doch der Wurmfortsatz ist nicht funktionslos. Eine „Abwehrfunktion bei Allgemeinerkrankungen“ billigten ihm schon MÖRIKE et al. (1981, 265) zu. Weiße Blutkörperchen werden im Wurmfortsatz an einer strategisch günstigen Stelle produziert, um Bakterien zu bekämpfen (MURRIS 1991). Neuere mikroskopische Untersuchungen bestätigen die Anwesenheit von einer großen Menge an lymphoidem Gewebe; es ist daran beteiligt, fremde Antigene in der Nahrung zu erkennen. Medizinische Studien wiesen einen Zusammenhang zwischen chronischen Entzündungen des Dickdarms (Colitis ulcerosa) und der Entfernung des Wurmforsatzes nach (JUDGE & LICHTENSTEIN 2001). Mittlerweile gilt daher als sicher, daß der Wurmfortsatz eine bedeutende Rolle im Immunsystem des Körpers bildet. Er dürfte in den ersten Lebensjahren besonders wichtig sein, da er kurz nach der Geburt am größten ist und danach größenmäßig abnimmt (FISHER 2000; ROBERTS 2001).

Der Appendix als evolutionäre Neuheit
In einer Neubewertung des Appendix der Primaten steuert Rebecca E. FISHER (2000) von der Yale School of Medicine weitere Befunde bei, die für eine stammesgeschichtliche Bewertung dieses Organs von Belang sind. Die Auffassung, es handle sich beim Appendix um ein rückgebildetes Organ, beruht ihrer Auffassung nach auf dem Vergleich mit solchen Säugetieren, die einen großen Appendix besitzen (z. B. Hasen). Dagegen sind die meisten Anatomen, die sich mit Primaten befassen, überzeugt, daß es sich beim Appendix um ein evolutionär abgeleitetes Organ handle, welches nur bei Affen und Menschen vorkomme. Das Problem der Bewertung ist das Fehlen eines allgemein akzeptierten Kriteriums dafür, wann ein Anhängsel am Blinddarm als Appendix zu werten ist. Je nach Kriterium ändert sich die taxonomische Verteilung des Vorkommens eines Appendix dramatisch (FISHER 2000, 229). Als Kriterien für die Definition des Appendix werden genannt:

1. Ein schmaler, markanter Apex (vorderes Ende),

2. ein dickwandiger Apex (im Gegensatz zum dünnwandigen vorderen Blinddarm) und

3. Konzentration von lymphoidem Gewebe.

Werden diese Kriterien zugrundegelegt, erscheinen die Wurmfortsätze der höheren Primaten abgeleiteter („höherentwickelter“) als die niederen Primaten. Mithin könnte der Appendix nicht als rudimentäres Organ interpretiert werden. Allerdings sind die Verhältnisse bei vielen Primaten noch ungenügend bekannt. Vor einer stabileren Beurteilung sind daher weitere Untersuchungen erforderlich. Bisher wurde nach Auffassung von FISHER (2000, 235) die Einschätzung von Strukturen des Blinddarms als Appendix von vorgefaßten Meinungen über die Primatenphylogenie bestimmt.

Schlußfolgerungen.
Dem Unvollkommenheits-Argument ist beim Appendix aufgrund der geschilderten Tatsachen der Boden entzogen. Die Vorstellung, beim Appendix handle es sich um ein rückgebildetes, oder gar nutzloses Organ, ist nicht haltbar. Damit entfällt auch das ohnehin fragwürdige Argument, das Vorkommen des Appendix spreche gegen Schöpfung. Die RudimentationsArgumentation beruhte auf isolierten Vergleichen ohne genauere Berücksichtigung der taxonomischen Verteilung des Vorkommens von Wurmfortsätzen bei Säugetieren sowie auf mangelnder Kenntnis über die tatsächlich vorhandenen Funktionen. Das Beispiel des Appendix sollte auch in anderen Fällen vermeintlicher Unvollkommenheiten oder Fehler bei den Lebewesen zur Vorsicht mahnen.

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Literatur

DARWIN C (1967 [1859])
Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Stuttgart. Orig.: DARWIN C (1859) The origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life. London.
FISHER RE (2000)
The primate appendix: a reassessment. Anat. Rec. (New Anat.) 261, 228-236.
JUDGE T & LICHTENSTEIN GR (2001)
Is the appendix a vestigial organ? Its role in ulcerative colitis. Gastroenterology 121, 730-732.
JUNKER R (2002)
Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen. Design-Fehler oder Design-Signale? Studium Integrale. Holzgerlingen.
MÖRIKE KD, BETZ E & MERGENTHALER W (1981)
Biologie des Menschen. Heidelberg.
MURRIS HR (1991)
Vestigial organs. A creationist re-investigation. Origins 5, 10-17.
ROBERTS N:
Does the appendix serve a purpose in any animal? Scientific American: Ask the experts, 24. 8. 01; www.sciam.com/askexdpert/biology/biology54/

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