Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 10. Jg. Heft 2 - September 2003
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Richard Fortey
Trilobiten!
Fossilien erzählen die Geschichte der Erde

Rezension von Manfred Stephan

Studium Integrale Journal
10. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2003
Seite 95 - 97


Richard Fortey
Trilobiten! Fossilien erzählen die Geschichte der Erde (Aus dem Englischen von K. Beginnen und S. Kuntz.)
Verlag C.H. Beck, München, 2002
275 S., 34 SW-Fotos auf Tafeln sowie 46 weitere Abbildungen u. SW-Fotos

Das Riesenreich der Ammonitenräder, man kann in ihm sehr glücklich sein“, heißt es in einem Gedicht von Otto LINCK. Das Gleiche würden viele Sammler von den Trilobiten sagen. Diese fremdartigen, entfernt krebsähnlichen Arthropoden (Gliederfüßer) haben einen typischen dreiteiligen Körperbau (Name!). Ammoniten und Trilobiten sind als unerhört formenreiche Fossilgruppen die Lieblinge der Sammler. Auch Richard FORTEY ließ die Begeisterung für Trilobiten nicht mehr los, seit er als 14jähriger in Wales mit einem Zimmermannshammer seinen Erstfund aus kambrischem Schiefer klopfte (25-27). Heute ist er leitender Paläontologe am Natural History Museum in London und gehört zu den international renommierten Trilobitenspezialisten. Die Faszination an „seinen“ Gliederfüßern drückt der Autor noch durch ein Ausrufungszeichen hinter dem Buchtitel aus (auch im englischen Original).

Abb. 1: Trilobit Phacops africanus mit trilobiten-typischer Dreiteilung in Cephalon (Kopfschild), Thorax (Brustschild; bestehend aus Einzelsegmenten) sowie Pygidium (Schwanzschild). Die großen Komplexaugen sind deutlich zu sehen. (Alnif, Marokko; Sammlung R. Wiskin)

FORTEY will für einen weiteren Leserkreis „etwas von dem Vergnügen vermitteln“, das ihm „das Studium der Trilobiten bereitet hat“ (Vorwort). Er erklärt zunächst in einfacher Weise den Körperbau der Trilobiten (Kap. II). Dann berichtet er über die Entdeckung der zarten Trilobitenbeine, die nur ausnahmsweise (in manchen Konservat-Fossillagerstätten) erhalten sind. Es folgt ein knapper Überblick über den unerhörten Formenreichtum (Kap. III); er ist bereits im Werk von J. BARRANDE (1852), dem „wohl bedeutendsten Trilobitenforscher“ (221), zu bestaunen.

Ein Kapitel (IV) widmet FORTEY den „Kristallaugen“ der Trilobiten. Sie ähneln zwar als Komplexaugen denen der übrigen Arthropoden, sind aber darin einzigartig im Tierreich, daß sie schon zu Lebzeiten aus Kalzit aufgebaut waren. Eine ganz besondere Bauweise zeigen die Augen des devonischen Phacops (Abb. 1). In die einzelnen Linsen ist hier eine spezifisch geformte, „wunderbar sorgfältig ausbalanciert(e)“ magnesiumhaltige Schicht eingebaut. Dadurch wurde der Brechungsindex des Lichts verändert; so war diesem Trilobit scharfes Sehen möglich. Der Autor zitiert hier S.J. GOULD, wonach „keiner der späteren Arthropoden jemals die Augen der Trilobiten an Komplexität und Schärfe übertroffen hat ... Für mich besteht das größte Rätsel der fossilen Funde darin, daß es nicht gelungen ist, in der Geschichte des Lebens einen eindeutigen ,Vektor des Fortschritts‘ zu finden“. FORTEY setzt den provokativen Satz hinzu: „Die Vorstellung, daß es in der Geschichte des Lebens einen Fortschritt geben müsse, ist intellektueller Schwachsinn“ (111).

Die ersten Trilobiten sehen
„in verschiedenen Erdteilen schon
recht unterschiedlich aus.“

Sehr interessant ist der Abschnitt „Die Explosion der Trilobiten“ (Kapitel V). In Anlehnung an die sogenannte „kambrische Explosion“, also das plötzliche fossile Erscheinen der meisten Tierstämme, schildert der Autor das Auftreten der Trilobiten: „Untersucht man eine Gesteinsformation ... aus dem frühen Kambrium ... in Neufundland, der Mongolei und Sibirien ..., dann findet man nicht den geringsten Hinweis auf Trilobiten, wenn man sich von einer Schicht zur nächsten vorarbeitet ... Dann aber fällt einem, wenn man das Gestein aufschlägt, urplötzlich auf einmal ein vollständiger Profallotaspis oder Olenellus, so groß wie eine Krabbe, in die erwartungsvoll geöffneten Hände. Es sind Trilobiten mit zahlreichen Segmenten und großen Augen, keine kleinen mickrigen Dinger ... Und wenn man fortfährt, einen Fuß höher in jüngere Schichten vorzudringen, folgen auf den ersten Trilobiten andere, vielleicht ein halbes Dutzend verschiedener Spezies, und alle sind jeweils ganz anders als dieser eine“ (124). Hinzu kommt: Die ersten Trilobiten sehen „in verschiedenen Erdteilen schon recht unterschiedlich aus“ (139). Dennoch sei Olenellus „der primitivste Trilobit“ (178); woanders bezeichnet er ihn als „bereits recht spezialisiert“ (130). Aufs Ganze gesehen sollen kambrische Trilobiten „primitivere Eigenschaften“ als die späteren aufweisen (161). Daß dieses Thema jedoch äußerst komplex ist und oft sehr unmethodisch gehandhabt wird, erhellen folgende Sätze FORTEYs: Olenellus „sieht irgendwie [!] nach einem primitiven Trilobit aus“ (78); aber: „Wer kennt das Maß, mit dem man Fortschritt messen kann, wer definiert die Maßeinheit der Verbesserung?“ (112). GOULD (1998) hat diese Problematik thematisiert; er berichtet über methodisch ansatzweise kontrollierte Forschungen, die einen echten Trend zu größerer Komplexität in der Geschichte des Lebens weithin in Frage stellen.

Vor 100 Jahren standen Trilobiten „für alles Primitive“ (129; vgl. 136). GOULD hatte in seinem bekannten Buch Wonderful Life (1989; deutsch 1991) die formenreichen mittelkambrischen Gliederfüßer aus dem Burgess-Schiefer (Kanada) als „einzigartige Arthropoden“ gerühmt (vgl. STEPHAN 1994). FORTEY stimmt hier GOULD nicht zu; vielmehr stehen in seinem (kladistischen) evolutionären Stammbaum erstaunlicherweise kambrische Trilobiten „weit oben“ (136), „in der Nähe der Baumspitze“ (138); zum Teil sogar „höher“ als gewisse „einzigartige Arthropoden“! (vgl. BRIGGS, FORTEY & WILLS 1992).

Der angenommene evolutive Ursprung der Trilobiten wird heute zum Teil mit Hilfe „molekularer Uhren“ um mehrere 100 Millionen Jahre ins Präkambrium zurückverlegt (139) – allerdings gibt es dort keinerlei fossile Hinweise auf sie (JUNKER 2001; vgl. STEPHAN 2002, 133).

Nachdem der Autor dem Leser einen Einblick in die Methodik der Lebewesen-Klassifikation (Taxonomie) gegeben hat (Kap. VI), behandelt er fein abgestufte Abwandlungsreihen von Trilobiten (Kap. VII). Detaillierte Schicht-für-Schicht-Untersuchungen zeigen, daß z.B. in der Abfolge des Ordoviziums von Wales bei Ogygiocarella debuchii die Rippenzahl am Pygidium (Schwanzschild) „durchschnittlich von 11 auf 14 zunahm“, und daß es „einen nahtlosen Übergang vondebuchii zu angustissima gab“. Zwar variierten die großen, untersuchten Populationen stark; aber es ist „insgesamt zweifelsfrei ein allgemeiner Trend zu erkennen: Im Laufe der geologischen Zeit bekamen die Tiere immer mehr Rippen“ (175). Solche Abfolgen sind von zahlreichen Tiergruppen bekannt; FORTEY erwähnt, daß manche Kritiker sie nicht [mikro-] evolutiv, sondern ökologisch deuten, nämlich als Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen am Meeresboden (176; vgl. JUNKER & STEPHAN 2002). Bedeutsam ist, daß der Autor die (angenommene) langsame Abwandlungsgeschwindigkeit bei Trilobiten kritisch kommentiert, da sie im Gegensatz zu heutigen Beobachtungen steht:

„Die Größenordnung dieses Wandels unterscheidet sich damit erheblich von den schnellen Veränderungen, die durch eine allopatrische Isolation ausgelöst werden“ [= Artbildungsweise, die von einer kleinen Randpopulation ausgeht und später eine andere Art verdrängt]. „Es ist tatsächlich schwer, sich einen Mechanismus vorzustellen, der etwas so langsam neu einstellen würde: Schließlich kann sich eine vorteilhafte Mutation bei Experimenten mit Taufliegen in vergleichsweise wenigen Generationen innerhalb einer Population ausbreiten“ (176; kursiv im Original).

„Langsam“ läuft das allerdings nur im Rahmen herkömmlicher geologischer Langzeit-Sedimentation ab. Setzt man heutige streßbedingte rasche Abwandlungsgeschwindigkeiten voraus (vgl. JUNKER & SCHERER 2001, 290-293), dann müßten die ordovizischen Sedimente tatsächlich um viele zeitliche Größenordnungen schneller abgelagert worden sein. Dafür spricht zusätzlich folgendes. Auch bei den Arten der Gattung Olenus im Alaunschiefer des südskandinavischen Oberkambrium stellten sich z.B. nach und nach „kleinere Veränderungen“ ein, „besonders hinsichtlich der Form der Schutzschilde, die mit der Zeit immer länger wurden“ (169). Man nimmt nun an, daß im „berühmten schwedischen Steinbruch bei Andrarum“ (170) wegen äußerst langsamer Ablagerung etliche Millionen Jahre in einigen Metern Sediment zusammengedrängt sind. Dieser bei Sauerstoffmangel aus Faulschlamm hervorgegangene „Stinkschiefer“ führt jedoch „zahlreiche wunderbare Überreste von Trilobiten“ (168; vgl. GRAVESEN 1993, 2633). Die Sedimentationsrate soll aber weniger als ein Millimeter in 1000 Jahren (!) betragen haben. Es ist kaum denkbar, daß die kalzitischen Skelettreste nicht aufgelöst oder biologisch recycelt worden wären, wenn sie Jahrhunderte bis Jahrtausende unbedeckt am Meeresgrund gelegen hätten. Zumal das Milieu sauer und von anaeroben Mikroben besiedelt war. Die Schale einer heutigen Herzmuschel kann sich in destilliertem, schwach saurem Wasser bereits in wenigen Jahren auflösen (MÜLLER 1992, 69). Auch solche Befunde sprechen für eine um viele Größenordnungen höhere Ablagerungsgeschwindigkeit.

Fortey hebt den „genialen Einfallsreichtum“ hervor, der sich im Trilobitenauge ausprägte. Diesen schreibt er aber offenbar der Natur zu.

Die letzten Kapitel (VIII bis X) behandeln vor allem die mutmaßlichen geographischen Positionen der Kontinente im Paläozoikum und die Aussterbeereignisse in der Geschichte der Trilobiten. Für die gestaffelte Abfolge der Trilobitengattungen zwischen Kambrium und dem endgültigen Erlöschen im obersten Perm nennt FORTEY auch ökologische Gründe (242ff.; schon 184ff.). Sie sollten in einem Geologiemodell berücksichtigt werden, das mit permanent massiv gestörten Umweltbedingungen rechnet, verbunden mit zumeist hohen Sedimentationsraten (vgl. STEPHAN 2003).

Der Autor vertritt zweifellos den in der modernen Wissenschaft üblichen Naturalismus. Gleichwohl staunt er immer wieder über die zahllosen, wunderbar gestalteten Ausprägungen an den Gehäusen. Ein großer „Dreizack“, den ein devonischer Trilobit nach vorn gerichtet auf dem Cephalon (Kopfschild) trägt, ist für FORTEY „ebenso einzigartig wie unerklärlich“ (243). Er hebt sogar den „geniale(n) Einfallsreichtum“ hervor, „wie er sich im Trilobitenauge ausprägte“ (121). Damit dürfte er allerdings die (hypostatisch überhöhte) „Natur“ meinen (vgl. 216); dazu paßt auch die gelegentliche Zurückweisung des „Kreationismus“ (161; vgl. 167). Wie aber seine Sprache verrät, kann sich auch der neuzeitliche Forscher, obgleich in der Immanenz verstrickt, der intuitiv empfundenen, wenn auch intellektuell ausgeklammerten Schöpfungswirklichkeit letztlich nicht entziehen. Immanuel KANT sagte in einem nachgelassenen Aphorismus: „Die Idee von Gott als lebendiger Gott ist nur das Schicksal, was dem Menschen unausbleiblich bevorsteht“ (SCHMIDT 1975, 500).

Literatur

BARRANDE J (1852)
Systême Silurien du Centre de la Bohême. Vol. 1, Planches. Crustacés: Trilobites. Nachdruck Prag 1999.
BRIGGS EG, FORTEY RA & WILLS MA (1992)
Morphological Disparaty in the Cambrian. Science 256, 1670-1673.
GOULD SJ (1991)
Zufall Mensch. München-Wien. (Amerikanische Originalausgabe: Wonderful Life, New York 1989).
GOULD SJ (1998)
Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Frankfurt/M.
GRAVESEN P (1993)
Fossiliensammeln in Südskandinavien. Geologie und Paläontologie von Dänemark, Südschweden und Norddeutschland. Weinstadt.
JUNKER R (2001)
Das Präkambrium-Kambrium-Problem: Molekulare Uhren und Fossilien. Stud. Int. J. 8, 83-85.
JUNKER R & SCHERER S (2001)
Evolution. Ein kritisches Lehrbuch. Gießen.
JUNKER R & STEPHAN M (2002)
Fossile Abfolgen: Evolutionär oder ökologisch bedingt? Stud. Int. J. 9, 85-87.
SCHMIDT R (1975)
Immanuel Kant: Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk. Kröners Taschenausgabe, Bd. 104. Stuttgart.
MÜLLER AH (1992)
Lehrbuch der Paläozoologie, Bd. I. JenaStuttgart.
STEPHAN M (1994)
Neuere Forschungen zur Lebewelt im Kambrium und Präkambrium – ein Überblick. Stud. Int. J. 1, 4-11.
STEPHAN M (2002)
Der Mensch und die geologische Zeittafel. Holzgerlingen.
STEPHAN M (2003)
Zur Bildungsdauer des Nusplinger Plattenkalks. Teil 3: Mikroevolution der Ammoniten, Massenvermehrungen von Kalkbildnern und Gesamtresultat. Stud. Int. J. 10, 12-20.

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