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Ranan O'Rahilly & Fabiola Müller
Embryologie und Teratologie des Menschen

Rezension von Henrik Ullrich

Studium Integrale Journal
10. Jahrgang / Heft 1 - April 2003
Seite 46 - 48


Ranan O'Rahilly & Fabiola Müller
Embryologie und Teratologie des Menschen.
Erste deutsche Auflage 1999, Bern (Übersetzung der zweiten englischsprachigen Ausgabe von 1996, New-York)

Um es gleich vorwegzunehmen, das Buch ist ein hervorragendes Referenzwerk der menschlichen Embryologie und behandelt Fragen der Verflechtung von Ontogenese und Phylogenese nur in einigen Nebenbemerkungen. Aber diese sind so eindrucksvoll und unmißverständlich, daß es sich lohnt, auf diese in diesem Journal einzugehen.

R. O’Rahilly und F. Müller legen mit ihrem Lehrbuch eine Arbeit vor, welche die Entwicklung des Menschen ausschließlich auf der Basis an menschlichen Embryonen und Feten gewonnener Daten darzustellen versucht. Dieses Vorgehen (ohne den sonst üblichen Rückgriff auf analoge Entwicklungsstadien von Tieren) ist bislang einzigartig und stellt einen Höhepunkt in der Geschichte der Humanembryologie dar. Die Autoren vollenden damit ein Anliegen des deutschen Embryologen Wilhelm His (1831-1904), der als erster den menschlichen Embryo in seiner Gesamtheit zu beschreiben versuchte. Sein Schüler und späterer Mitarbeiter P. Mall gründete die Carnegie-Collection in Baltimore und schuf eine international anerkannte Stadieneineilung menschlicher Embryonen. In der Folge setzten L. Streeter (1942-1948), R. O’Rahilly (1973) und O’Rahilly und Müller (1987) diese Arbeit fort. Weitere wesentliche Beiträge steuerte der Göttinger Embryologe E. Blechschmidt (1963; 1973) bei.

Abb. 1: Gegenüberstellung der embryonalen Kopf-Halsregion in Darstellung bei Haeckel (links) und bei His. (Vgl. Anzahl der dargestellten Pharyngealbögen und die Wiedergabe der Kopfform!) a: Haeckels „Anthropogenie“ (3. Auflage) 1877 Tafel I, Darstellung der menschlichen Gesichtsentwicklung im „Cyclostomenstadium“ (M1 = 3. Entwicklungswoche) und im „Ichthyoden-Stadium“ (M2 = 4. Entwicklungswoche). b-e: Darstellungen in His, „Anatomie menschlicher Embryonen“ (1885 Teil III S. 27, Fig. 15-18); Frontalrekonstruktion des Mundrachenraums von menschlichen Embryonen aus der dritten (b), vierten (c, d) und fünften (e) Entwicklungswoche.

Aber nicht nur dieser wichtige Zweig der humanembryologischen Klassifizierung, sondern auch die deutliche Kritik am irreführenden Gebrauch von Begriffen für embryonale Strukturen des Menschen verbindet die o.g. Autoren mit W. His. Dieser hatte sich als einer der ersten Fachembryologen vehement gegen die Interpretationen und Abbildungen von Embryonen in den Publikationen von Ernst Haeckel gewandt und dafür sehr viel Kritik von Seiten der erstarkenden Evolutionsbiologie erfahren (z.B. „Von den sogenannten Kiemen- oder Schlundspalten“ in: Archiv für Anatomie und Entwicklungsgeschichte 1881, 319-321). In Abb. 1 sind beispielhaft Abbildungen der embryonalen Halsregion von Ernst Haeckel (links) und von Wilhelm His (rechts) einander gegenübergestellt.

Im Gegensatz zu den Vorstellungen Haeckels über das Wie der Individualentwicklung1 hielten sich in den Lehrbüchern seine vom vergleichend anatomischen Denken bestimmten Begriffe für einzelne embryonale Strukturen. Und es ist bekannt, daß zahlreiche solcher Termini dazu dienten, Überzeugungen hinsichtlich der phylogenetischen Herkunft und Entstehung der jeweiligen Bildungen festzuschreiben. Das berühmteste Beispiel dafür sind wohl die „Kiemenbogen“ und „Kiemenspalten“, welche in der frühen Phase der menschlichen Embryonalentwicklung im Kopf-Halsbereich in Erscheinung treten sollen und die bis heute als Anklänge an vermeintliche fischartige Vorläufer zitiert werden. An vielen Einzelbeispielen wurde gezeigt, daß diese Art von Terminologie weder den unmittelbar vorliegenden embryologischen Befunden entspricht noch eine akzeptable Widerspiegelung heutiger phylogenetischer Annahmen ist. Gegen diesen „bedauernswerten Einfluß für den Fortschritt der Embyologie“ (S. 26) der Rekapitulationstheorie Haeckels treten die Autoren deutlich auf. Das bedeutet aber nicht, daß sie an der „Tatsache“ der Evolution und ihrer Verknüpfung mit embryonalen Vorgängen Zweifel hegen.

„Die Ansichten zur Stellung des Embryos sind mehr eine Frage der Wertung
denn ein naturwissenschaftliches Problem. Ihre Einschätzung ist beträchtlich beeinflusst durch die philosophische Einstellung.“

Die von O’Rahilly und Müller verwendeten Begriffe in „Embryologie und Teratologie des Menschen“ wollen so objektiv wie möglich den tatsächlichen Gegebenheiten von Struktur und Entwicklung Rechnung tragen, weswegen auch zahlreiche noch in der Nomina embryologica (= international anerkannte Bezeichnungen embryonaler Strukturen) verwendeten Termini nicht genutzt werden. Das Buch präsentiert eine in dieser Form erstmals veröffentlichte tabellarische Auflistung von in der Humanembryologie nicht erwünschten Begriffen und stellt diesen diejenigen Ausdrücke gegenüber, die von den Autoren bevorzugt werden. Sie sind in Tab. 1 unverändert wiedergegeben.

Tab. 1: Die im Sinne einer phylogenetischen Interpretation genutzten Termini (linke Spalte), die von den O'Rahilly & Müller kritisiert werden. Fett hervorgehoben (nicht im Original) sind die besonders häufig genutzten Termini.

Das in den jeweiligen Kapiteln vorgelegte Datenmaterial, welches in hervorragender didaktischer Weise in Skizzen, Photographien und Tabellen dem Leser und Lernenden angeboten wird, belegt die in der Tabelle getroffenen Aussagen eindrucksvoll.

Im Zusammenhang mit der kontrovers diskutierten Frage, wann der Mensch zum Menschen wird, verweisen die Autoren auf den oft in Lehrbüchern vernachlässigten Aspekt des Wechselverhältnisses zwischen wissenschaftlichen Fakten und ihrer Beurteilung unter Vorgabe weltanschaulicher Grundpositionen: „Die Ansichten zur Stellung des Embryos sind mehr eine Frage der Wertung denn ein naturwissenschaftliches Problem. Ihre Einschätzung ist beträchtlich beeinflußt durch die philosophische Einstellung“ (S. 21). O’Rahilly und Müller sind überzeugt, daß mit der Fertilisation (von den Autoren bevorzugter Terminus für den umgangssprachlich bekannten Begriff „Befruchtung“) der kritische Punkt gesetzt wird, weil unter normalen Gegebenheiten „ ... ein neuer, genetisch distinkter menschlicher Organismus ...“ (S.22) sich zu entwickeln beginnt.

Auch eher als Randbemerkung gedacht ist der Hinweis auf das Thema „Homologie“. Ein übereinstimmendes Verständnis dieses Begriffes, das übergreifend auf die verschiedenen Ebenen der biologisch analytischen Forschung anwendbar wäre, existiert nicht. Die Ergebnisse der Entwicklungsgenetik leisten wohl einen hervorragenden Beitrag zum Verständnis von Entwicklungsgrundlagen, aber sind keine Hilfe, um den Begriff „Homologie“ im Sinne phylogenetischer Vorstellungen schärfer zu fassen (vgl. dazu Junker 2002).

Bei all den mutigen und bemerkenswerten Schritten, die den Autoren aus dem Dickicht des vom Rekapitulationsdenken durchwachsenen Verständnisses der Humanembryologie gelungen ist, bleibt ein kleiner Mangel. Die alte Methodik der Zählweise der embryonalen Aortenbögen, die beim Menschen nacheinander fünfmal paarweise auftreten und von denen die ersten vier mit den vier Pharyngealbögen in unmittelbaren Zusammenhang stehen, wird leider noch beibehalten: 1-2-3-4-6. Der Rückgriff auf die Verhältnisse beim Haifisch, auf welche diese Zählweise basiert, ist sicherlich eine der letzten Reminiszensen an ein nicht tragfähiges Konzept für das Erfassen humanembryonaler Zusammenhänge.

Anmerkung

1 In der Fachwelt spielten die von Haeckel propagierten kausalen Zusammenhänge der Embryonalentwicklung (Stammesgeschichte als Ursache der Individualentwicklung, Vererbung erworbener Eigenschaften) bei der Beschreibung und Interpretation menschlicher Entwicklungsvorgänge eine untergeordnete Rolle und galten spätestens seit der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze als widerlegt.

Literatur

Gursch R (1981)
Die Auseinandersetzungen um Ernst Haeckels Abbildungen. Diss. med. Marburg 1980. Marburger Schriften zur Medizingeschichte. Bern, Frankfurt a.M.
Haeckel E (1877)
Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. 3. Auflage. Leipzig: Engelmann, 1877
His W (1880-1885)
Anatomie menschlicher Embryonen Theil 1. Embryonen des ersten Monats. Leipzig, 1880; Theil 2. Gestalt und Grössenentwicklung bis zum Schluß des 2. Monats. Leipzig, 1882; Theil 3. Zur Geschichte der Organe. Leipzig, 1885.
His W (1881)
Von den sogenannten Kiemen- oder Schlundspalten. Archiv für Anat. und Entwicklungsgeschichte 1881, 319-321.
Junker R (2002)
Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen. Design-Fehler oder Design-Signale? Holzgerlingen. Studium Integrale.
O’Rahilly R & Müller F (1992)
Human Embryology and Teratology. New York.
O’Rahilly R & Müller F (1987)
Developmental Stages in Human Embryos. Camegie Institution of Washington Puplication 637.

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