Unser Erkennen ist in jeder Hinsicht! vorläufiges "Stückwerk". Trotzdem sind die Biowissenschaften von exponentiell wachsenden Datenmengen gekennzeichnet. Ist morgen revisionsbedürftig, was gestern gültig war? In den Naturwissenschaften ist eine erstaunliche Konstanz der Grundstrukturen des empirischen Wissensgebäudes zu beobachten: Die Newton'schen Theorien sind im Prinzip auch heute noch gültig. Ähnliches gilt für die in der ersten Auflage dieses Buches vor 13 Jahren beschriebenen Grunderkenntnisse über die sauerstoffentwickelnde Photosynthese. Heute wissen wir über diesen faszinierenden Prozeß viel mehr, doch mußten die damals erkannten Abläufe, wie etwa das Z-Schema der Photosynthese (Vgl. Fig. 12, S. 24), nicht grundsätzlich revidiert werden. Die seitherige Forschung führte durch neuartige molekulargenetische und biophysikalische Untersuchungsmethoden aber zu einem vertieften Verständnis von Struktur-Funktionsbeziehungen photosynthetischer Prozesse. Der an weiteren Details interessierte Leser sei auf neuere Lehrbücher verwiesen (Alberts et al. 1995, hier auch das Kapitel "Evolution der Elektronentransportketten", S. 823; Lüttge et al. 1994).
Auch unser Wissen über mikroevolutive Mechanismen der Veränderung akterieller Genome hat im letzten Jahrzehnt erheblich zugenommen. Die Sequenzierung von Genen ist zur Routinearbeit in vielen mikrobiologischen Labors geworden und die Aufklärung (nicht nur bakterieller) mikroevolutiver Vorgänge ergab teilweise unerwartete Einblicke in die Mechanismen, welche dem manchmal verblüffenden Phänomen der biologischen Variabilität zugrunde liegen. In aller Kürze sind einige Entwicklungen im ersten Kapitel des neuen zweiten Teils dieses Buches zusammengestellt (S. 75).
Die zusammenfassende Beurteilung des vor 13 Jahren verfügbaren Wissens über Evolutionsvorgänge auf molekularein Niveau führte zu der ernüchternden Schlußfolgerung, daß hinsichtlich der molekularen Mechanismen für die Entstehung eines einfachen photosynthetischen Elektronentransportes "noch nicht einmal eine plausible Hypothese" (S. 67) in Sicht war. Diese Schlußfolgerung muß für die weitgehend auf eine evolutive Sicht der Natur festgelegte scientific community provozierend gewesen sein. Obwohl sie damals auch einem internationalen, kritischen Leserkreis zur Diskussion gestellt wurde (Scherer1983, 1984), ist doch meines Wissens bis heute kein Widerspruch in der wissenschaftlichen Literatur erfolgt. Bei evolutionskritischen Vorträgen an Universitäten begegnete ich dagegen häufig der Ansicht, man wisse eben noch viel zu wenig über Evolution, die aufgeworfenen kritischen Einwände würden mit zunehmender Erkenntnis dann letztlich aber doch ausgeräumt werden können.
Die erste Auflage dieses Buches entstand aus einem Vortrag an der Universität Heidelberg im Sommersemester des Jahres 1982. Zehn Jahre später wurde ich im Rahmen einer kontroversen Vortragsreihe an die Universität Tübingen eingeladen. Ich entschloß mich, über die gleiche Problematik wie 1982 zu sprechen. Die zu diesem Zweck erfolgte, erneute und intensive Auseinandersetzung mit dem Thema war spannend: Würden die im letzten Jahrzehnt ans Licht gekommenen experimentellen Daten über Evolutionsprozesse bei Bakterien zur Revision der 1982 gezogenen Schlußfolgerung Anlaß geben? Aus der Bearbeitung des Tübinger Vortrages entstand das zweite Kapitel im zweiten Teil dieses Buches.
Die Tübinger Vorträge wurden 1995 auch als Sammelband veröffentlicht (Mey et al. 1995). Diesen Band, insbesondere aber die Beiträge meiner evolutionstheoretisch denkenden Kollegen P. Bohley, R.W. Kaplan, V. Mossbrugger, H. E. A. Schenk und W. Schwemmler, empfehle ich dem Leser wärmstens als "ausgleichende" Lektüre.
Siegfried Scherer
Freising, im Mai 1996
- Ablerts B, Bray D, Lewis J, Raff M, Roberts K, Watson JD (1995) Molekularbiologie der Zelle. Weinheim.
- Lüttge U, Kluge M, Bauer G (1994) Botanik. Weinheim.
- Mey J, Schmidt R, Zibulla S (Hg, 1995) Streitfall Evolution Kontroverse Beiträge zum Neodarwinismus. Stuttgart.
- Scherer S (1983) Basic functional states in the evolution of cyclic photosynthetic electron transport. J. Theor. Biol. 104, 289-299.
- Scherer S (1984) Transmembrane electron transport and the theory of neutral evolution. Origins of Life 14, 725-731.