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Genetische Grundlagen der Artbildung

von Daniel Vedder

Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2017
Seite 108 - 111


Zusammenfassung: Ökologen und Genetiker arbeiten häufig getrennt an der Weiterentwicklung von Evolutionstheorien. Aber zu einem vollen Verständnis evolutiver Prozesse wie der Artbildung wäre es wichtig, dass Erkenntnisse beider Disziplinen berücksichtigt werden. Ein neuer Artikel setzt dort an und gibt einen Überblick über acht genetische Mechanismen, die zu einer Artaufspaltung führen können.




Ökologie und Genetik in der Evolutionsbiologie

Als Charles Darwin einen Mechanismus für den Artenwandel vorschlug, fehlte ihm noch eine Menge Wissen über das, was wir heute Genetik nennen. Daher war er auf ausgedehnte Beobachtungen zur Variation in der Natur angewiesen, um sein Konzept der natürlichen Selektion zu erklären und zu untermauern. Bis heute arbeiten viele Evolutionsbiologen genauso wie Darwin auf der organismischen Ebene, also mit einem ökologischen Ansatz.

Das genügt in vielen Fällen auch, um Ursache und Wirkung von Selektion zu untersuchen. Wichtige evolutionsbiologische Fragen sind ökologischer Natur: Welche Selektionsdrücke wirken auf eine Population? Welche Anpassungen erhöhen die Fitness eines Organismus für seine Umgebung? Wie variiert eine Art in Raum und Zeit? Warum sehen wir dabei eine gerichtete Entwicklung? Zur Frage nach dem Was und dem Warum der (Mikro-)Evolution bietet die Ökologie die passenden Untersuchungsmethoden.

Wer jedoch mehr über die unmittelbaren Ursachen und nicht nur über mögliche Selektionsdrücke wissen will, kommt um die Genetik nicht herum. Die Methoden der modernen Genetik erlauben es Forschern erstmals, organismische Merkmale bzw. ihre Änderungen auf molekulare Ursachen zurückzuführen. Zwar gibt es noch rege Diskussionen, welchen Stellenwert die Ökologie bzw. die Genetik in der Evolutionsbiologie haben sollte (vgl. Rausher & Delph 2015), doch im Grunde sind sich alle einig, dass beide Disziplinen benötigt werden und dass die Genetik wertvolle Erkenntnisse zum Gesamtverständnis der Evolution beisteuern kann.

Nach etwa drei Jahrzehnten intensiver molekulargenetischer Arbeit ist mittlerweile einiges über die genetischen Grundlagen von Evolutionsprozessen bekannt. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Die beiden wichtigsten sind vielleicht: Woher kommt genetische Variation und wie trägt sie zur Artbildung bei?

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Genetische Mechanismen der Mikroevolution
Abb. 1: Blau und rot blühende Arten des Bartfadens (Penstemon) werden von verschiedenen Bestäubern besucht. Links die von Bienen bestäubte blau blühende Art Penstemon leonardii (Andrey Zharkikh, CC BY 2.0) Penstemon triflorus (Stan shebs, CC BY-SA 3.0), rechts die von Kolibris bestäubte Art Penstemon barbatus (CC BY-SA 3.0).

Zu genau diesen zwei Fragen hat das Forscherehepaar Grant kürzlich einen Übersichtsartikel im Wissenschaftsjournal Science vorgelegt (Grant & Grant 2017). Die Grants sind für ihre langjährige Arbeit mit Darwinfinken auf den Galapagosinseln bekannt. Sie haben bereits früher einiges zur Artbildung geschrieben (vgl. Junker 2012), wobei sie im Allgemeinen ökologische Ansätze verfolgten. Doch auch zur Genetik haben sie viel Interessantes zu sagen.

Manche Mechanismen beruhen auf bereits vorhandener Variation, bei anderen entsteht neue Variation.

In ihrem Artikel stellen sie acht genetische Mechanismen vor, von denen in den letzten Jahren gezeigt werden konnte, dass sie zur Artbildung (Speziation) beitragen können. Zu jedem Mechanismus führen sie Beispiele an. (Weitere Details zu vielen der Beispiele kann man bei Futuyma & Kirkpatrick 2017 finden.) Grob gesagt lässt sich die Liste der Mechanismen in zwei Gruppen aufteilen: Diejenigen, die auf bereits vorhandener Variation beruhen, und die, bei denen neue Variation entsteht.

Mikroevolutive Prozesse, bei denen neue Variation entsteht. Für die Entstehung phänotypischer Variation (d. h. die äußere Gestalt betreffend) sind häufig Gene entscheidend, die die Individualentwicklung (Ontogenese) eines Organismus beeinflussen. Dabei kann es sich z. B. um Transkriptionsfaktoren handeln, die eine Vielzahl anderer Gene regulieren können, oder um Signalmoleküle, die räumliche Muster bei der Embryonalentwicklung festlegen. Ein Beispiel hierfür liefern die Grants aus ihrer eigenen Arbeit: Bei den Darwinfinken gehören Größe und Form des Schnabels zu den artbestimmenden Merkmalen, wobei mehrere der daran beteiligten Gene bekannt sind. Bei einem Gen, HMGA2, konnte zudem eine Verschiebung der Allelfrequenzen (d. h. ihrer Häufigkeiten) in der Population in Zusammenhang mit einem starken Selektionsdruck durch Dürre beobachtet werden.

Abb. 2: Durch Rückkreuzungen von Mischlingen mit einer der Elternarten kann die Gesamt­variabilität einer Art erhöht werden, hier am Beispiel des Falters Heliconius mit (von oben nach unten) vier Formen von H. numata, zwei Formen von H. melpomene und zwei entsprechenden nachahmenden Formen (Mimikry) von H. erato. (Aus Meyer 2006, CC BY 2.5)

Der zweite Mechanismus beruht auf Transposons, den sogenannten „springenden Genen“. Dabei handelt es sich um DNA-Abschnitte, die sich häufig duplizieren und an neue Stellen des Genoms einfügen. Sie sind in der Natur überaus häufig: Fast die Hälfte des menschlichen Genoms besteht aus Kopien verschiedener Transposons. Nun kann es passieren, dass ein Transposon sich beim Kopieren in ein anderes Gen einfügt und dieses dadurch verändert oder ausschaltet. So entstand etwa die dunkle Form des ansonsten hellen Birkenspanners, dessen Industriemelanismus das wohl bekannteste Fallbeispiel natürlicher Selektion ist.

Der dritte Mechanismus ist die Inversion. Hin und wieder passiert es, dass während der Genomduplikation ein Stück eines Chromosoms herausbricht und dann verkehrt herum wieder eingesetzt wird. Diesen Mechanismus hat man beim Kampfläufer, einem nordeuropäischen Watvogel, nachweisen können. Die Männchen dieser Art kommen in drei Variationen vor, die beim Balzverhalten von Bedeutung sind und ursprünglich auf eine große Inversion zurückgehen.

Als viertes sind Mehrfachmutationen zu nennen: Akkumulationen kleiner, unabhängiger Mutationen, die jede für sich häufig nur ein einziges Basenpaar betreffen, aber zusammen einen größeren Effekt haben. Das wurde z. B. bei einer Population nordamerikanischer Hirschmäuse beobachtet, die anders als die meisten ihrer Artgenossen auf hellem sandigen Boden leben. Hier kam es zu einer Ansammlung von Mutationen in einer Genregion, die die Fellfärbung bestimmt, wodurch die Mäuse insgesamt heller wurden und somit besser getarnt waren.

Auch Verlustmutationen können evolutionär von Bedeutung sein. Bei manchen Pflanzengattungen kann es zu plötzlichen Änderungen der Blütenfarbe kommen, so z. B. bei Ipomoea und Penstemon (Abb. 1). In diesen Fällen ist der Farbumschlag von Blau nach Rot sehr viel häufiger als umgekehrt. Grund dafür ist, dass die Rotfärbung durch eine Verlustmutation in der Anthocyan-Produktion entsteht, die nur schwer reversibel ist. Da bei diesen Pflanzen Individuen mit blauen Blüten von Bienen bestäubt werden, solche mit roten Blüten jedoch von Kolibris, kann auch eine solch simple Mutation den Anstoß zur Artaufspaltung geben.

Prozesse, die auf bereits vorhandener Variation beruhen. Die drei übrigen Mechanismen setzen voraus, dass bereits genetische Variation vorhanden ist. Das ist etwa bei der parallelen Evolution nah verwandter Arten der Fall. Das hier angeführte Fallbeispiel ist der Dreistachlige Stichling, ursprünglich ein Salzwasserfisch, der nach der letzten Eiszeit in viele Süßwassergewässer vordrang. Dabei wurden die neuen Populationen isoliert, entwickelten sich jedoch fast überall in gleicher Weise weiter und bildeten auf gleichem genetischen Weg je eine Oberflächen- und eine Tiefwasserform aus, die sich durch die Anzahl von Panzerplatten und Bauchstacheln unterscheiden.

Manchmal passiert es auch, dass Arten, die in neue Umgebungen kommen, auf einmal eine Variation zeigen, die bis dahin versteckt war. Man spricht dann von kryptischer Variation. Beispielsweise kann das Gen, das die Augengröße des Mexikanischen Höhlenfisches bestimmt, seine volle Wirkung erst in dunklen Höhlengewässern entfalten. Hier ist jedoch noch vieles unbekannt.

Der letzte Mechanismus ist schließlich die Rückkreuzung, auf Englisch introgressive hybridization. Diese findet statt, wenn ein Mischling zweier Arten sich wiederum mit einer seiner Elternarten kreuzt. Dadurch kann genetische Variation der einen Art in den Genpool der anderen Art überführt und somit die Gesamtvariabilität der zweiten Art erhöht werden. Für dieses Phänomen gibt es viele Beispiele, etwa die Flügelfärbung bei Faltern der Gattung Heliconius (vgl. Abb. 2) oder die Insektizidresistenz bei Anopheles-Mücken. Auch bei Menschen soll es eine Rolle gespielt haben: Die heutigen Einwohner des tibetanischen Hochlandes weisen genetische Ähnlichkeiten mit den Denisovaner-Frühmenschen auf, die wohl durch Hybridisierung zustande kamen. Besonders spannend ist die Rückkreuzung, wenn dadurch Phänotypen entstehen, die außerhalb der Variationsbreite beider Elternarten liegen, was vermutlich auf eine Neukombination von Genen zurückzuführen ist. So konnte z. B. die Sonnenblumen-Art Helianthus paradoxus Salzwiesen besiedeln.

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Diskussion

Der Artikel der Grants bietet einen faszinierenden Einblick in den momentanen Forschungsstand der Ursachenforschung in der Evolutionsbiologie. Besonders interessant ist dabei, dass er eine Brücke schlägt zwischen Ökologie und Genetik und diese sehr unterschiedlichen Fachgebiete im evolutionstheoretischen Rahmen verbindet. Außerdem beinhaltet er eine reiche Auswahl konkreter Fallbeispiele, eine wohltuende Abwechslung in einer häufig recht theorielastigen Disziplin.

Natürlich bleiben noch viele Fragen offen. Den kompletten Prozess der Artbildung in einem Forscherleben zu beobachten, ist schwer bis unmöglich. Die Grants gehören durch ihre jahrzehntelange Forschung mit den Darwinfinken zu den wenigen Forschern, denen das bisher gelungen ist. Deshalb sind auch die meisten Fallbeispiele, die sie in ihrem Artikel anführen, entweder Beispiele beginnender Speziation oder Rückschlüsse auf frühere Artbildungsereignisse. Aufgrund der Annahmen, die dabei getroffen werden müssen, sind die Interpretationen der Beispiele mit einem gewissen Grad an Unsicherheit behaftet. Trotzdem ist es spannend zu sehen, wie die Genetik helfen kann, evolutionäre Fragestellungen anzugehen, die bei ökologischen Beobachtungen aufkommen.

Aus schöpfungstheoretischer Sicht spricht der Artikel mit der Frage nach dem Ursprung genetischer Variation ein interessantes Thema an. Die Tatsache, dass mindestens drei der acht genannten Mechanismen explizit auf schon vorhandene Variation zurückgreifen müssen, passt ohnehin gut zum Grundtypmodell. In dessen Rahmen würde man erwarten, dass es Urformen mit sehr hoher genetischer Variabilität gibt, die sich durch sukzessive Artaufspaltung in immer mehr Arten mit immer geringerer Variabilität teilen. Aber auch Neuentstehung von Variabilität ist in gewissem Ausmaß zu erwarten. Betrachtet man die übrigen fünf Mechanismen, zeigt sich, dass sie sich – gemessen an den enormen Bauplanunterschieden in der gesamten Tier- und Pflanzenwelt – im Rahmen relativ geringer Zuwächse an Variation bewegen. Bei einem der Mechanismen, den Verlustmutationen, schrumpft das Entwicklungspotenzial der Art sogar. Keiner der erwähnten Mechanismen scheint somit geeignet, den für eine Höherentwicklung im Sinne von Makroevolution notwendigen Informationszuwachs zu erzeugen.

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Literatur

Futuyma DJ & Kirkpatrick M (2017)
Evolution. 4th ed. Sunderland: Sinauer Associates.
Grant BR & Grant PR (2017)
Watching speciation in action. Science 355, 910-911.
Junker R (2012)
Schnelle Artbildung live bei den Darwinfinken. Stud. Integr. J. 19, 45-47.
Meyer A (2006)
Repeating Patterns of Mimicry. PLoS Biol. 4(10): e341.
Rausher MD & Delph LF (2015)
Commentary: When does understanding phenotypic evolution require identification of the underlying genes? Evolution 69, 1655-1664.


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