Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
Druckerfreundliche Ansicht dieser Seite

 


Anchiornis – nur „fast ein Vogel“?

von Reinhard Junker

Studium Integrale Journal
24. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2017
Seite 102 - 104


Zusammenfassung: Mittels Laserlicht neu rekonstruierte Details des befiederten Dinosauriers Anchiornis aus der Gruppe der Paraves zeigen überraschend „moderne“ Vogelmerkmale wie Flughaut und Bau der Beine. Diese geologisch älteste Gattung mit flächigen (echten) Federn war vierflügelig und konnte offenbar sehr viel besser fliegen als bisher angenommen. Die Merkmale von Anchiornis widersprechen einer allmählichen Entstehung der Flugfähigkeit.




Einführung

Eine neue Untersuchungstechnik ermöglicht es, bislang unerkannte Details an Fossilien sichtbar zu machen: Durch Laser können Details auch von erhaltenen Weichteilen zur Fluoreszenz gebracht und so sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise konnten interessante Informationen über die Theropoden-Gattung Anchiornis gewonnen werden (Wang et al. 2017), die im Zusammenhang mit der Entstehung des Vogelflugs einige Bedeutung hat.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Anchiornis – noch nicht ganz Vogel?
Abb. 1: Anchiornis huxleyi, Fossil mit gut erkennbaren Federn. (CC BY-SA 2.0)

Der Name Anchiornis bedeutet „einem Vogel nahe“. Von dieser Gattung sind über 200 Exemplare fossil überliefert. Anchiornis war üppig mit symmetrischen Federn befiedert, wird aber aufgrund von Skelettmerkmalen dennoch nicht zu den Vögeln gestellt, sondern zur Dinosaurier-Familie Troodontidae, die zu den sogenannten „Nicht-Vogel-Dinosauriern“ gehört. Das ist eine eigenartige, evolutionstheoretisch motivierte Bezeichnung, die nur Sinn macht, wenn man davon ausgeht, dass Vögel von bestimmten Dinosauriern abstammen. Zusammen mit den Dromaeosauridae werden die Troodontidae als Deinonychosauria zusammengefasst, diese wiederum bilden zusammen mit den Vögeln die Gruppe der Paraves (vgl. Abb. 6, S. 75). Es wurde aufgrund des Besitzes vogeltypischer Merkmale auch vorgeschlagen, Anchiornis zu den Vögeln zu stellen (Feduccia 2012, 163; Agnolín & Novas 2013, 23).

Anchiornis huxleyi wurde in Oberjura-Schichten gefunden, die mit 151-161 Millionen radiometrischen Jahren etwas älter als Archaeopteryx datiert werden. Schon bisher war bekannt, dass Anchiornis ein eigenartiges Merkmalsmosaik besaß (Hu et al. 2009, Xu et al. 2009). Das Tier war mit ca. 35 cm Länge und geschätzten ca. 100 g Gewicht ziemlich klein und hatte gut ausgebildete Federn an Armen und Beinen (ähnlich wie der als Gleitflieger rekonstruierte Dromaeosaurier Microraptor und die Vogelgattung Pedopenna), war also vierflügelig. Vorderarm, Hand, Unterschenkel und Fuß hatten jeweils 10-13 lange Schwungfedern. Außer den Konturfedern wurden auch daunenähnliche Büschelfedern nachgewiesen.

Vieles spricht dafür, dass Anchiornis ein spezielles Merkmalsmosaik besaß, das sich nicht als Übergangsform deuten lässt.

Trotz der reichhaltigen Befiederung halten die Beschreiber Hu et al. (2009) Anchiornis nicht für flugfähig, da die sehr langen Unterschenkel eher auf eine laufende Lebensweise hinweisen würden. Das lange und umfassende Federkleid passe allerdings wiederum dazu nicht. Federn an den Beinen kommen bei vielen heutigen Vögeln wie auch sehr wahrscheinlich bei Archaeopteryx vor, haben Schutzfunktion und dienen dem Wärmehaushalt. Sie sind dort aber nicht wie bei Anchiornis, Microraptor und Pedopenna in einer zusammenhängenden ebenen Oberfläche angeordnet. Daher ist zu vermuten, dass die Beinfedern dieser fossilen Formen eine andere Funktion hatten, so Hu et al. (2009). Sullivan et al. (2014, 262) hielten bisher die Fähigkeit zum Gleitflug für naheliegend. Die Biologie von Anchiornis ist angesichts des ungewöhnlichen Merkmalsmosaiks unverstanden.

Bezüglich der zeitlichen Stellung würde Anchiornis in eine Vorfahrenstellung zu den Vögeln passen, allerdings ist diese Gattung vierflügelig, was der Vorstellung widerspricht, dass Vögel von zweibeinig sich fortbewegenden Dinosauriern abstammen. Vieles spricht dafür, dass Anchiornis ein spezielles Merkmalsmosaik besaß, das sich nicht als Übergangsform deuten lässt.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Abb. 2: Flügel von Anchiornis unter Laser-induzierter Fluoreszenz. Die Hautfalten (Patagien) vor dem Ellenbogen und hinter dem Handgelenk waren wie bei heutigen Vögeln mit Federn bedeckt.(Foto: Wang XL, Pittman M et al., Nature Communications, 2017; CC BY-SA 4.0)
Was wurde durch das neue bildgebende Verfahren entdeckt?

Viel besser als bisher kann nun der Körperumriss und das die Knochen umgebende Gewebe sichtbar gemacht werden. Die Forscher fanden Reste einer kräftigen Hautmembran, die Ober- und Unterarme verbindet (ein sogenanntes Propatagium); dieser Befund legt nahe legt, dass das Tier entgegen bisheriger Auffassung doch flugfähig gewesen sein könnte.

Die Flughaut am Ellenbogen hilft heutigen Vögeln beim Start vom Boden aus; somit könnte sie auch Anchiornis zu dieser Fähigkeit verholfen haben, so die Wissenschaftler; sicher kann das aber nicht festgestellt werden. Allerdings wurden offenbar keine asymmetrischen Federn nachgewiesen, was eine Voraussetzung für die Fähigkeit zu aktivem Flug darstellt.

Michael Pittman, einer der Forscher, kommentiert: „Die Laserbilder zeigen, dass dieser Nicht-Vogel-Dinosaurier Flügel besaß, die den Flügeln heutiger Vögel bemerkenswert ähnlich waren, bis hin zu den Weichgeweben.“1

Regulär angeordnete Punkte auf der Körperoberfläche werden als Federfollikel interpretiert, diese bilden nicht wie bei heutigen Vögeln ein deutliches Muster von Federfluren und Federrainen (befiederte und unbefiederte Regionen), was neben der Symmetrie der Federn ein weiterer Hinweis auf eine besondere Art des Fluges ist (Wang et al 2017, 4). Die Forscher schließen aus der Existenz der Flughaut, dass Anchiornis den Arm relativ gerade ausrichten konnte, wie das bei heutigen Gleitern typisch ist; der Bau der Arme sei vermutlich auf eine bislang unter den Paraves unbekannte Weise gestaltet gewesen (Wang et al. 2017, 3).

Neu ist auch der Befund, dass die Beine keulenförmig waren und der Schwanz schlank war; die Füße besaßen Hornschuppen („podotheca“) wie heutige Vögel; auch die Zehenballen haben eine „moderne“ Ausprägung.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Bewertung
Abb. 3: Fuß von Anchiornis bei normalem Licht (oben) und unter Laserlicht (unten).Die schuppenartigen Details eines Fußballens sind unter Laserlicht erkennbar. (Foto: Wang XL, Pittman M et al., Nature Communications, 2017; CC BY-SA 4.0)

Die Befunde lassen Anchiornis noch ausgeprägter als bisher als Mosaikform erscheinen und verstärken diesen Eindruck: Einerseits handelt es sich um einen „Nicht-Vogel-Dinosaurier“, andererseits besaß diese Gattung mehrere „moderne“ vogeltypische Merkmale, u. a. auch den Flugapparat betreffend. Die ausgeprägten Vogelmerkmale machen nur Sinn, wenn Anchiornis in irgendeiner – bislang wohl unbekannten – Weise flugfähig war. Als Kronzeuge für die Art und Weise der Entstehung des Vogelflugs scheidet diese Gattung wohl aus.

Die vierflügeligen Formen haben mit dem Übergang zum „normalen“ Vogelflug vermutlich nichts zu tun.

Aus dem Oberjura und der Unterkreide ist mittlerweile eine Vielfalt von Formen mit eindeutigen flächigen Federn und einer wie auch immer gearteten Flugfähigkeit bekannt. Sie lässt sich kaum in evolutionäre Schemata bringen (vgl. den Beitrag über „Vogelfedern und Vogelflug“ in dieser Ausgabe). In evolutionstheoretischer Perspektive repräsentieren die vierflügeligen Formen sehr wahrscheinlich eigene Linien, die mit dem Übergang zum „normalen“ Vogelflug nichts zu tun haben. Zudem sind die vierflügeligen Formen wiederum so verschieden, dass sie auf verschiedene Äste gestellt werden müssen; die vierflügelige Gattung Microraptor hatte anders als Anchiornis asymmetrische Federn.

Vierflügelige Formen unterstützen die Baumtheorie der Entstehung des Vogelflugs, wonach der aktive Flug seinen Ausgang von baumlebenden Formen nahm, die zuerst als Gleiter unterwegs waren, bevor sie den aktiven Flug erworben haben. Mehr denn je liefern die Fossilfunde ein uneinheitliches Bild bezüglich der Flugentstehungskonkurrenten der Bodenstart- und Baumstart-Hypothese. Beide Hypothesen haben ohnehin mit so schwerwiegenden Problemen zu kämpfen, dass sie gleichermaßen unglaubhaft sind (Junker 2017).

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Anmerkung

1 Originalzitat: „The laser images show that this non-bird dinosaur had wings that were remarkably similar to those of living birds, down to the soft tissues.“ (www.bbc.com/news/science-environment-39126987)

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Literatur

Agnolín FL & Novas FE (2013)
Avian ancestors: A review of the phylogenetic relationships of the theropods Unenlagiidae, Microraptoria, Anchiornis and Scansoriopterygidae. Dordrecht: Springer.
Feduccia A (2012)
The riddle of the feathered dragons. New Haven & London: Yale Univ. Press.
Hu D, Hou L, Zhang L & Xu X (2009)
A pre-Archaeopteryx troodontid theropod from China with long feathers on the metatarsus. Nature 461, 460-463.
Junker R (2017)
Entstehung von Vogelfeder und Vogelflug. Studiengemeinschaft Wort und Wissen Special Paper.
Sullivan C, Wang Y, Hone DWE, Wang Y, Xu X & Zhang F (2014)
The vertebrates of the Jurassic Daohugou biota of Northeastern China. J. Vertebr. Paleont. 34, 243-280.
Wang X, Pittman M, Zheng X, Kaye TG, Falk AR, Hartman SA & Xu X (2017)
Basal paravian functional anatomy illuminated by high-detail body outline. Nat. Comm. 8:14576, doi: 10.1038/ncomms14576.
Xu X, Zhao Q, Norell M, Sullivan C, Hone D, Erickson G, Wang XL, Han FL & Guo Y (2009)
A new feathered maniraptoran dinosaur fossil that fills a morphological gap in avian origin. Chinese Science Bulletin 54, 430-435.


Studium Integrale Journal 24. Jg. Heft 2 - Oktober 2017