Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 23. Jg. Heft 1 - Mai 2016
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23. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2016
Was ist „Erdgeschichte“? Michael Kotulla zeigt in dieser Ausgabe, dass „Erdgeschichte“ kein neutraler, ergebnisoffener Entwurf der Vergangenheit, sondern „gemacht“ ist. Das Bild zeigt eindrucksvolle Felsformationen im Monument Valley im Grenzgebiet der US-Bundesstaaten Utah und Arizona. (Foto: ©Kushnirov Avraham – Fotolia.com)



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Themen

M. Brandt
Frühmenschen mit modern-menschlichen Fähigkeiten. Paradigmenwechsel in der Ursprungsforschung des Menschen
R. Junker
Vogelfedern und Vogelflug. Was Evolutionshypothesen erklären müssten
Online Zusatzmaterial (PDF)
M. Kotulla
Erdgeschichte als Tatsache (PDF-Version)
Online Zusatzmaterial (PDF)

Kurzbeiträge

M. Brandt
Hand und Werkzeugverhalten früher Homininen
M. Brandt
Urmensch Homo erectus konnte doch sprechen
D. Vedder
Citratnutzung bei E. coli und die Wiederholbarkeit der Evolution
P. Imming
Seltsam, im interstellaren Nebel zu forschen
H.-B. Braun
Der sechste Sinn bei Hummeln
B. Schmidtgall
Chemisches missing link gefunden?
M. Kotulla
Die explosive Eruption des Laacher-See-Vulkans (PDF-Version)
Online Zusatzmaterial (PDF)

Streiflichter

Fossiler Hinweis auf komplexe Brutpflege bei Gliederfüßern im Silur
Neues von den karbonischen Bärlappbäumen
Wie viel Stillstand verträgt die Evolutionstheorie?
Hakenrüssler (Kinorhyncha) – ein weiterer Tierstamm der „kambrischen Explosion“
Birkenspanner, Melanismus und springende Gene
In 50 statt in 12.000 Jahren: Wiederholte Anpassungen bei Stichlingen
Amphibische Fische: Mindestens 33 Mal unabhängig entstanden
Fragile Systematik bei Motten
Radarblick in die grönländische Eisdecke (PDF-Version)
Chemie der Lebensentstehung: Tiefseeschlote werden erneut als synthetisch produktive Orte modelliert
Sortiermaschine für Nukleinsäuren – hilfreich zur Entstehung erster Erbinformation?

Rezension

R. Junker: Design in der Natur. Von der Physikotheologie zu Intelligent Design (Beat Schweitzer)

Editorial

Erdgeschichte für alle! Mit diesen Worten könnte die Initiative zunächst Einzelner beschrieben werden, „die Geschichte der Erde und des Lebens auf der Erde“ der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Es begann mit populären Werken wie Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden (um 1850). Insbesondere ihre landschaftlichen Szenendarstellungen, z. B. die Karbon-Periode, ließen eine „unendlich ferne Vergangenheit“ lebendig und gegenwärtig werden. Schnell entwickelte sich dieses diskrete Format geohistorisch geordneter Szenen zu einem Genre für den Rest des 19. und gesamten 20. Jahrhunderts. Dabei ist es kein Zufall, dass dieses Format große Ähnlichkeit mit der Art biblischer Illustrationen aufweist. Als Zielgruppe mag zuerst der „aufgeklärte Bildungsbürger“ im Fokus gestanden haben. Mit der Institutionalisierung der Geologie schließlich hat Erdgeschichte, insbesondere in ihrer visualisierten Form, Einzug in das staatliche Verwaltungs- und Bildungswesen genommen und das gesellschaftliche Leben durchdrungen.

Diese Szenen, so stellt der einflussreiche Historiker und Paläontologe Martin J. S. Rudwick fest, „waren zu einer mächtigen Form visueller Rhetorik geworden, mit welcher die breite Öffentlichkeit von der Realität der unvorstellbaren langen Zeitskala der Geologen überzeugt werden konnte“ (Rudwick MJS (1992) Scenes of deep time. Chicago London.). Das mag man kaum glauben. – Doch noch mehr: Die Szenen-Folgen als erdgeschichtlichen Kanon würden die „Realität“ der geologischen Zeit als solche vermitteln; von einer Annahme also ist keine Rede. Das heißt: Ein Element der Erdgeschichte, die „unvorstellbare lange Zeitskala der Geologen“, wird als Realität deklariert und als Realität bzw. Tatsache weitergegeben – Erdgeschichte als Tatsache! 

Was aber ist „Erdgeschichte“? Michael Kotulla legt dar, dass sich „Erdgeschichte“ aus zahlreichen Elementen konstituiert und mit festen Attributen besetzt ist. „Erdgeschichte“ ist kein neutraler, ergebnisoffener Entwurf der Vergangenheit, „Erdgeschichte“ ist gemacht

In einem weiteren geologischen Beitrag geht es um den Versuch, den späteiszeitlichen Ausbruch des Laacher-See-Vulkans (40 km südlich Bonn) zu rekonstruieren. Das ist Vulkanologen über mehrere Jahrzehnte hinweg weitestgehend gelungen. Demnach handelte es sich um eine komplexe, explosive Eruption, deren Hauptphase vermutlich nur wenige Tage andauerte. Das Volumen des ausgeworfenen Materials (Tephra) von etwa 20 km³ ist mehr als zehnmal so groß verglichen mit dem des Mt. St. Helens (Ausbruch von 1980). Die Versuche, den Ausbruchszeitpunkt mit verschiedenen Methoden zu bestimmen (in Kalenderjahren vor heute), liefern einen erkenntnisreichen Einblick in die Verfahrensweisen und deren Anwendung. 

Drei Beiträge befassen mit dem Thema „Herkunft des Menschen“. Neue Befunde weisen darauf hin, dass der Mensch schon immer geistig „fit“ war und ein primitives Frühstadium nicht nachweisbar ist. Demnach war der Frühmensch ein hocheffektiver Jäger und verfügte über ein differenziertes Verhalten und eine komplexe Sprache, vergleichbar mit den Fähigkeiten des modernen Menschen, wie Michael Brandt in seinem Beitrag „Frühmenschen mit modern-menschlichen Fähigkeiten“ zeigt. Auch der älteste unbestritten echte fossile Mensch, Homo erectus, konnte sprechen. Dies wurde zwar häufig bestritten, aber auch hier belegen neue Untersuchungen, dass Homo erectus ein echter Mensch mit geistigen Fähigkeiten ähnlich denen des modernen Menschen war. Umgekehrt zeigt sich immer wieder, dass nichtmenschliche Primaten merklich vom Menschen verschieden sind. Hier werden aus einzelnen Knochenmerkmalen manchmal Schlüsse auf ihre Funktion gezogen, die durch das Fundmaterial nicht gedeckt sind. Das kann durch Vergleiche mit heute lebenden Formen gezeigt werden; Michael Brandt erläutert dies am Beispiel des Mondbeins des Menschen, einem der Handwurzelknochen des Menschen.

Ein Dauerbrenner in der Evolutionsforschung und auch in STUDIUM INTEGRALE JOURNAList die Frage nach dem Ursprung neuer Merkmale. Im populärwissenschaftlichen Bereich gilt dieses Thema eigentlich als erledigt, doch in den Fachjournalen erscheinen laufend Beiträge, die sich diesem Thema widmen – es ist nämlich alles andere als geklärt. Große Popularität hat in diesem Zusammenhang mittlerweile das Langzeit-Evolutions-Experiment mit dem Darmbakterium Escherichia coli erlangt. Es wurde im Jahr 1988 begannen und läuft nun schon seit ca. 65.000 Generationen parallel in zwölf Linien. Jüngst wurde darüber eine Kontroverse geführt, u. a. ob eine evolutive Neuheit nachgewiesen worden sei. Daniel Vedder erklärt in seinem Beitrag über Citratnutzung bei E. coli die Details.

Als in groben Zügen geklärt gilt auch das vieldiskutierte Beispiel der Entstehung von Vogelfedern. Einige Zwischenstadien sollen einen evolutiven Weg hin zu dieser phantastischen Hightech-Struktur plausibel machen.  Hier gilt es aber, genauer hinzuschauen, was eine Vogelfeder alles benötigt, um flugtauglich zu sein – es ist viel mehr als man zunächst denkt, wie Reinhard Junker in seinem Beitrag „Vogelfeder und Vogelflug“ ausführt.

Mit dieser bunten Sammlung kontrovers diskutierter Themen wünschen wir unseren geschätzten Leserinnen und Lesern eine aufschlussreiche Lektüre.

Ihre Redaktion STUDIUM INTEGRALE JOURNAL



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