Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
Druckerfreundliche Ansicht dieser Seite



Fliegen mit Parkinson

von Hans-Bertram Braun

Studium Integrale Journal
20. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2013
Seite 99 - 101


Zusammenfassung: Kann die Untersuchung winziger Fliegenhirne dazu beitragen, neurodegenerative Erkrankungen des menschlichen Gehirns, wie etwa Parkinson oder Demenz, besser zu verstehen? Neurowissenschaftler der Universität von Arizona und des King’s College in London haben zahlreiche Ähnlich­keiten zwischen bestimmten Hirnregionen bei Wirbeltieren und Gliederfüßern aufgelistet. Sie deuten die Übereinstimmungen als „deep homology“, also als Ähnlichkeit durch Vererbung zwischen Tierstämmen, die als nur sehr entfernt verwandt angesehen werden. Diese Annahme bedeutet, dass bereits der postulierte letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Fruchtfliege ein Gehirn besessen haben muss, das komplexes Verhalten so steuerte, wie es heute noch geschieht.




Weitreichende Ähnlichkeiten von Fliegen- und Wirbeltiergehirn
Abb. 1: Trotz enormer Unterschiede in Größe und Form bauen die Gehirne von Fliege, Maus und Mensch auf ähnlichen genetischen Strukturen auf, die vergleichbare Verhaltensweisen in ähnlicher Art und Weise regulieren. (© Dr. Frank Hirth, King‘s College London; http://www.kcl.ac.uk/
iop/depts/neuroscience/research/Groups/Hirth/Index.aspx
)

Erst kürzlich wurde festgestellt, dass Verschaltungen in den Gehirnen von Vögeln und Menschen trotz deutlich unterschiedlicher Lebensweise der Träger doch sehr ähnlich sind (Güntürkün et al. 2013). Ähnlichkeiten zwischen Gehirnen sind aber offensichtlich noch über weit größere stammesgeschichtliche Entfernungen hinweg festzustellen: In einem Übersichtsartikel in Science vergleichen Strausfeld und Hirth (2012) Hirnstrukturen von Gliederfüßern (z. B. Insekten, Krebstiere) mit denen von Wirbeltieren. Verglichen werden Areale, die für die Kontrolle von gezielten Bewegungen zuständig sind, die also die Basis für jedes angepasste Verhalten bilden. Bei den Wirbeltieren sind das die sogenannten Basalganglien, mehrere an der Basis des Großhirnes liegende Kernregionen. Bei den Insekten ist es der Zentralkomplex, ein im Innern des Insektenhirns liegender dreigeteilter Bereich.

Die Gemeinsamkeiten beginnen schon bei der Embryonalentwicklung, während derer die Vorläuferzellen, welche später Basalganglien bzw. den Zentralkomplex bilden, aus jeweils ähnlichen Bereichen des embryonalen Gehirns stammen. Untersuchungen der Genaktivität während der Gehirnentwicklung zeigen, dass viele homologe (also von der DNA-Sequenz ähnliche) Gene in entsprechenden Regionen bei Gliederfüßern und Wirbeltieren aktiv sind. In Basalganglien und Zentralkomplex laufen im sich entwickelnden Gehirn also vergleichbare genetische Programme ab und das in ähnlichen räumlichen Mustern.

Die Gemeinsamkeiten betreffen die Embryonalentwicklung, die genetischen Programme, die räumlichen Muster der Genaktivität, die neuronale Architektur,
die Verschaltung der verschiedenen Hirnbereiche und anderes.

Die neuronale Architektur, also die Anordnung von Nervenzellen bei Basalganglien der Wirbeltiere und im Zentralkomplex der Gliederfüßer zeigt einen vergleichbar modularen Aufbau, wobei die einzelnen Komponenten in den Tieren beider Tierstämme ähnliche Funktionen erfüllen. Der sogenannte Fächerförmige Körper der Insekten ist dabei vergleichbar dem Wirbeltier-Striatum und der Ellipsoide Körper dem sog. Pallidum der Wirbeltiere (beides Elemente der Basalganglien).

Auch die Verschaltung der verschiedenen Bereiche zeigt deutliche Ähnlichkeiten: Hemmende Neuronen (Nervenzellen), die g-Aminobuttersäure (GABA) als Überträgersubstanz zwischen Nervenzellen verwenden, sind in Regelkreisen mit Dopamin und Glutamat verwendenden Neuronen verschaltet. In Wirbeltieren werden Bewegungen nämlich auf unerwartet komplizierte Art gesteuert, indem Nervenzellen, die Dopamin als Transmitter verwenden, Bewegungshemmung aufheben bzw. modulieren. Die Bewegungshemmung wird durch Neuronen hervorgerufen, die GABA als Transmitter verwenden; Bewegungen werden also dadurch ausgelöst, dass die Hemmung aufgeboben wird. Das Prinzip ist vergleichbar etwa der Druckluft-Feststellbremse bei LKWs, die erst durch Pressluft geöffnet werden muss, bevor das Fahrzeug sich bewegen kann. Bei Gliederfüßern deuten die Befunde auf ganz ähnliche komplizierte Schaltkreise mit Neuronen derselben Spezifitäten hin, die in diesem Fall den Fächerförmigen und den Ellipsoiden Körper verbinden.

Abb. 2: Gehirn einer Fruchtfliege, in dem eine Unterstruktur des Zentralkomplexes sichtbar gemacht ist (grün). Ähnlich wie die Basalganglien bei Wirbeltieren vermittelt der Zentralkomplex die Verhaltensweisen. (© Dr. Frank Hirth, King‘s College London; http://www.kcl.ac.uk/iop/depts/neuroscience/research/Groups/Hirth/Index.aspx)

Die augenscheinlichsten Gemeinsamkeiten zwischen Basalganglien und Zentralkomplex kann man aber feststellen, wenn die entsprechenden Strukturen entweder gezielt oder durch Verletzungen, Infektionen oder altersbedingte Degeneration beeinträchtigt werden: Beim Menschen z. B. wird durch Störung der Basalganglien eine breite Palette von motorischen Fehlfunktionen hervorgerufen, die sowohl übertriebene als auch unterdrückte Bewegungsaktivität zur Folge haben kann. Wenn zum Beispiel die oben genannten dopaminergen Neuronen ausfallen, führt das zur Parkinson-Krankheit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Gehirn mehr und mehr Bewegungen nicht mehr kontrolliert unterdrücken kann. Auch Tourette-Syndrom, Chorea Huntington, Verkrampfungen und Fehlhaltungen, aber auch psychiatrische Fehlfunktionen wie Gedächtnisstörungen, Aufmerksamkeits-, Affektive- und Schlafstörungen sind Folge von Defekten der Basalganglien.

Interessanterweise zeigen Insekten ganz ähnliche Verhaltensweisen und Defizite, wenn Strukturen im Zentralkomplex beeinträchtigt sind. In der Taufliege führt Mangel an Dopamin zu Bewegungsstörungen, verlängerten Schlafzeiten und Verlust von Vermeidungsreaktionen, die normalerweise durch bestimmte Gerüche hervorgerufen werden. Altersbedingter Mangel an Dopamin ausschüttenden Neuronen führt auch hier zu Parkinson-ähnlichen Symptomen. Dr. Hirth vom Londoner King’s College für Psychiatrie stellt deshalb fest, dass er am beeinträchtigten Insektenhirn viel darüber lernen kann, wie Fehlfunktionen im menschlichen Gehirn zustande kommen.

All diese in der Summe erstaunlichen Ähnlichkeiten deuten die Autoren als „tiefe“ Homologie, also Ähnlichkeit durch gemeinsamen Ursprung zwischen Tierstämmen, die eigentlich als nur sehr entfernt verwandt angesehen werden. Sie bedeutet in letzter Konsequenz, dass bereits der sehr entfernt angenommene erste gemeinsame Vorfahr von Wirbeltieren und Gliederfüßern (und Stummelfüßern sowie weiteren Würmern, die auch einen Zentralkomplex aufweisen) ein Gehirn besessen haben muss, das komplexes, durch absichtsvolle Bewegung geprägtes Verhalten steuern konnte. In einem Kommentar zu ihrer Publikation untermauern die Autoren diese Annahme mit Spuren, die unbekannte Lebewesen vor hunderten Millionen radiometrischen Jahren auf heute versteinertem Meeresboden hinterlassen haben, die bereits zielgerichtete Bewegungsänderungen erkennen lassen.1

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Bewertung

Wie schon wiederholt in Studium Integrale Journal berichtet deuten solche Befunde darauf hin, dass Lebewesen, unter Zugrundelegung des evolutionären Interpretationsrahmens für die geologischen Schichtfolgen, sehr früh und äußerst komplex in Erscheinung treten und dann offensichtlich über extrem lange Zeiträume keine grundlegenden Zugewinne in den beschriebenen Funktionen mehr erfahren. Noch heute kommen Insekten ohne ein voluminöses Großhirn aus und sind in der Lage, alle Bewegungen, die für die vielschichtigen Verhaltensweisen wie z. B. das Leben im Bienenstaat nötig sind, unter Nutzung ihres hirneigenen Zentralkomplexes zu steuern.

Es gibt kein objektives Kriterium, ab welcher Komplexität ein Merkmal nur durch gemeinsame Abstammung entstanden sein kann.

Der Vergleich mit Ergebnissen anderer Autoren bestätigt auch erneut, dass die Interpretation von Ähnlichkeiten als Hinweis für gemeinsame Abstammung mehr oder weniger willkürlich ist: Auch angesichts genauso komplexer Merkmale wie der Echoortung bei Insekten, Vögeln und Säugetieren lehnt z. B. ein renommierter Autor wie Conway Morris (2009) „Tiefe Homologie“ als Erklärung für diese Ähnlichkeiten ab und geht davon aus, dass sich die Funktionen unabhängig voneinander mehrfach entwickelt haben. Es gibt offensichtlich kein objektives Kriterium, ab welcher Komplexität bzw. welcher Anzahl an Ähnlichkeiten und unter Berücksichtigung von welcher Distanz im (zuvor) konstruierten Stammbaum des Lebens ein Merkmal durch Vererbung (gemeinsame Abstammung) hervorgerufen sein soll oder durch mehrfache Evolution (Konvergenz).

Wenn – im besten Fall – durch Arbeiten am Zentralkomplex von Insekten Erkenntnisse gewonnen werden sollten, die helfen, die Parkinson-Krankheit zu besiegen, dann wird es unerheblich gewesen sein, ob die Ähnlichkeiten auf gemeinsamer Abstammung oder auf einer mehrfachen Anwendung eines erfolgreichen „Baukastensystems“ im „Baum des Lebens“ basieren. Die Ähnlichkeit an sich, als naturwissenschaftlich erfasste Tatsache, würde für diesen Therapieerfolg zum entscheidenden Wegbereiter werden. Insofern ist Dobzhanskys These „Nothing in biology makes sense except in the light of evolution“ durchaus zu widersprechen.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Anmerkung

1 Im Grunde ist der Fund von Spuren von Lebewesen, die zielgerichtete Bewegungen dokumentieren, nicht überraschend, egal wie alt die Spuren sind. Zielgerichtete Bewegungen sind ein grundlegendes Merkmal von Leben; wären Spuren nicht zielgerichtet, würde man sie wahrscheinlich nicht auf Lebewesen zurückführen.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zur Literaturliste

Literatur

Conway Morris S (2009)
The predictability of evolution: glimpses into a post-Darwinian world. Naturwissenschaften 96, 1313-1337.
Güntürkün O, Wild M, Shimizu T, Bingman VP & Shanahan M (2013)
Large-scale network organization in the avian forebrain: a connectivity matrix and theoretical analysis. Frontiers in Computational Neuroscience 7; doi: 10.3389/fncom.2013.00089
Strausfeld NJ & Hirth F (2012)
Deep Homology of Arthropod Central Complex and Vertebrate Basal Ganglia. Science 340, 157-161. http://www.youtube.com/watch?v=_16JqOLLdX4


Studium Integrale Journal 20. Jg. Heft 2 - Oktober 2013