Studium Integrale Journal - Home Studium Integrale Journal 19. Jg. Heft 1 - Mai 2012
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18. Jahrgang / Heft 2 - Oktober 2011
Titelbild: „Täuschen und Tricksen“ ist eines der Themen dieser Ausgabe. Darauf „versteht sich“ auch der heimische Frauenschuh (Cypripedium calceolus), der die Blütenbesucher vorübergehend einsperrt, um sie zur Bestäuber zu benutzen. (Foto: www.fotolia.com)



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Themen

S. Hartwig-Scherer
Ardipithecus – ein Astgänger sägt am Lehrbuchwissen
Online Zusatztext (PDF)
R. Junker
Der Ursprung der Fledermäuse. Teil 2: Echoortung, Systematik, Konvergenzen und „Erklärungen“
H. Kutzelnigg
An der Nase herum geführt

Kurzbeiträge

R. Junker
Von komplex nach einfach?
H. Binder
Buckelzirpen – wie entstehen spektakuläre Körperanhänge?
H.-B. Braun
Zum Liebesleben der Rädertierchen
R. Junker
Die Entstehung neuer Enzyme – ganz einfach?
H. Binder
Eintagsfliege hinterlässt fossile Spuren
K.-U. Kolrep
Das lebende Rettungsfloß

Streiflichter

Läuse bestätigen große Lücke
Ur-Garnele ist „modern“
Parasitierende Insektenlarve auf Spinne in Baltischem Bernstein
Fossile Riesenkrabbenspinne mit moderner Technik „wiederentdeckt“
Schnecken(schnelle) Evolution: Die Bedeutung der Polyvalenz
Eroberung freier Räume statt Verdrängungswettbewerb
Orchidee trickst Bestäuber aus – Fall 1: Vortäuschung von Schimmelpilzen
Orchidee trickst Bestäuber aus – Fall 2: Imitation der Alarmstoffe von Blattläusen
Neues vom Birkenspanner
Moderne Optik im Kambrium
Millers Simulationsexperimente erneut unter der Lupe

Rezension

R. Junker
Epigenetic Principles of Evolution (Nelson R. Cabej)

Editorial

Wenn Sie einen Kauf im Internet gegen Vorkasse tätigen, den Vertragspartner aber nicht kennen, haben Sie dann ein mulmiges Gefühl? Vielleicht will Sie jemand austricksen und täuschen und ist nur auf Ihr Geld aus. Sollte das aber einmal passiert sein, wird Ihnen dieses Missgeschick nicht ein zweites Mal passieren, jedenfalls nicht bei derselben Firma.

Tricksen und täuschen ist auch ein großes Thema in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei einigen Pflanzenfamilien wie z. B. den Orchideen ist eine erhebliche Anzahl von Arten ganz stark darin, Blütenbesucher hinters Licht zu führen und falsche Tatsachen vorzuspiegeln. Sie erwecken den Eindruck, für Insekten ein lockendes Nahrungsangebot auf Lager zu haben oder täuschen einen Sexualpartner vor, nutzen aber nur den dadurch herbeigeführten Blütenbesuch, um die Besucher als Transporteure für den Pollen zu nutzen, ohne die vorgetäuschte Gegenleistung zu gewähren. Die Irreführung funktioniert dabei so überzeugend, dass die Geschädigten sich immer wieder täuschen lassen. Das ist auch notwendig, denn wenn Insekten Pollen auf die Narbe einer anderen Blüte transportieren sollen, müssen sie mindestens zweimal zum Besuch von Blüten derselben Art animiert werden. Welche subtilen Mittel dabei eingesetzt werden, z. B. die Verwendung von exakt auf bestimmte Bestäuber zugeschnitten Duftgemischen, beschreibt Herfried KUTZELNIGG in einem Artikel über die Gattung Arum (Aronstab) und in zwei Streiflichtern über zwei Orchideen-Arten: eine chinesische Frauenschuh-Art und eine vorderasiatische Stendelwurz-Art. Die Mittel der Anlockung erweisen sich in manchen Fällen von Art zu Art innerhalb derselben Gattung als deutlich verschieden, was wie eine vorprogrammierte Situation erscheint.

Hypothesen zur Entstehung des Menschen ziehen die Aufmerksamkeit besonders auf sich, denn hier geht es um unsere eigene Art. Vor zwei Jahren wurden in einer umfangreichen Publikationsserie detaillierte Untersuchungen der schon länger bekannten Art Ardipithecus ramidus dokumentiert und interpretiert. Nach Auffassung ihrer Bearbeiter soll diese Art mit dem Spitznamen „Ardi“ nicht nur bisherige Kandidaten für mögliche Vorfahren des Menschen ablösen, sondern darüber hinaus einen völlig neuartigen Evolutionsweg von Menschenaffen zum Menschen nahe legen. Statt des bislang gültigen Lehrbuchwissens bezüglich des evolutionären Übergangs von einem knöchelgehenden Menschenaffen mit Fähigkeit zum Hangeln hin zum aufrecht gehenden Menschen schlagen sie einen agilen, sich auf die Hinterbeine aufrichtenden Baumläufer vor ohne jede Spur von Knöchelgang und anderen speziellen Merkmalen der Schimpansenartigen. Dieser Evolutionsweg könnte zwar die heftigen und unlösbaren Kontroversen, die mit den gängigen Vorstellungen verbunden sind, beenden, würde aber andere Fragen aufwerfen, die keineswegs leichter wären. Sigrid HARTWIG-SCHERER schildert die Argumente der Bearbeiter von „Ardi“, erläutert die daran geäußerte Kritik und kommt zum Schluss, dass ein abschließendes Urteil über seine Stellung im Stammbaum – derzeit oder vielleicht sogar überhaupt – nicht möglich ist. Das stellen auch B. WOOD und T. HARRISON (2011) indirekt fest: „Warum beharren Wissenschaftler darauf, ein phylogenetisches Problem zu lösen, selbst wenn es an der Grenze oder sogar jenseits der analysierbaren Möglichkeiten liegt?“ Ihre Antwort: „Weil unsere Herkunft eine so große Bedeutung für uns hat“ (Nature 470, 347-352).

Spektakuläre Körperanhänge bei einer Zikadengruppe, den Buckelzirpen, lenkten den Blick der Genetiker auf sich. Tiere aus dieser Insektengruppe besitzen auf dem Rücken des ersten Brustsegments z. T. skurrile Strukturen, die z. B. wie eine Antenne aussehen oder ein anderes Insekt nachahmen. Einige genetische Grundlagen der Ausbildung dieser Strukturen konnten neuerdings aufgeklärt werden. Wie in vielen anderen Fällen wurden in der Präsentation der wissenschaftlichen Ergebnisse die Befunde als bedeutsame Ursachen für eine evolutive Entstehung interpretiert und die Evolution sogar zum „Großbildhauer“ gemacht; der Ursprung evolutionärer Neuheiten sei in diesem Fall aufgeklärt worden. Harald BINDER stellt diese interessante Tiergruppe vor und diskutiert, was die Befunde erklären und was nicht.

Ein weiteres Beispiel weitreichender Behauptungen über die Leistungsfähigkeit evolutionärer Mechanismen diskutiert Reinhard JUNKER. Dabei geht es um den möglichen Weg der Entstehung eines neuen Enzyms, der experimentell nachvollzogen werden könnte. Welche Schritte führten im Einzelnen zum neuen Enzym? Und welche allgemeinen Schlussfolgerungen über die Leistungsfähigkeit und Grenzen der bekannten Evolutionsfaktoren können daraus gezogen werden?

Staunenswert sind die sozialen Fähigkeiten der Feuerameisen. Sie schließen sich bei Überschwemmung in kürzester Zeit zu einem robusten Rettungsfloß zusammen, das selbst durch massive Störungen nicht auseinandergerissen wird, und trotzdem so einem drohenden Untergang. Kai-Uwe KOLREP beschreibt, wie die sonst wegen ihres giftigen Stichs eher berüchtigten Tiere das hinbekommen.

Für die genannten und weiteren erstaunlichen Beiträge wünschen wir eine lehrreiche und gewinnbringende Lektüre.

Ihre Redaktion STUDIUM INTEGRALE JOURNAL



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